Grigorij Alexsejewitsch mißt Schulkinder auf dem speziellen Strahlenmeßstuhl, der im Minsker Institut BELRAD entwickelt wurde
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Gammastrahlen-Meßgerät RUG-92, Grundinventar der Strahlenkontrollzentren in den weißrussischen Dörfern
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Leben nach dem GAU

Weissrussland 15 Jahre nach Tschernobyl

Vor 15 Jahren, am 26. April 1986, kam es im ukrainischen Atomkraftwerk Tschernobyl zu einer Explosion im Block 4 und damit zum ersten GAU in der Geschichte der zivilen Nutzung der Atomenergie. Am 15. Dezember 2000 wurde das AKW endgültig abgeschaltet – mit den verheerenden Folgen und der gerade wieder aktuell gewordenen drohenden Gefahr eines Einsturzes des „Sarkophags„ wird Europa noch lange leben müssen. Besonders hart traf die Katastrophe das benachbarte Weißrußland. Kurz nach dem Unfall, bei dem 72% des radioaktiven fall-outs auf weißrussischem Territorium niedergingen, mußten dort ca. 135.000 Menschen evakuiert und umgesiedelt werden. Eine noch immer unbekannte Zahl sogenannter „Liquidatoren„, die den brennenden Reaktor löschten, kamen in der Folgezeit ums Leben. Nachdem das Problem anfangs verschwiegen wurde, brachte die Perestroika auch in dieser Frage mehr Offenheit und viele internationale staatliche und nicht-staatliche Initiativen begannen, Strahlenschutzmaßnahmen in den betroffenen Gebieten zu unterstützen. Doch seit einiger Zeit wird das internationale Engagement immer schwächer und der weißrussische Staat selber, der in einer anhaltenden ökonomischen Krise steckt, muß die Mittel für den Strahlenschutz der Bevölkerung immer weiter senken. Der Fall Tschernobyl scheint 23.981 Jahre vor dem Ablauf der Halbwertszeit von Plutonium schleichend zu den Akten gelegt zu werden. Doch noch immer leben in Weißrußland über 2 Millionen Menschen auf verstrahlten Gebiet (23% der weißrussischen Landesfläche wurden 1986 mit >1 Curie/qkm Cäsium-137 verstrahlt), darunter etwa 500.000 Kinder. Nur 20% dieser Kinder werden vom weißrussischen Gesundheitsministerium als "gesund" eingestuft (1985 waren es noch 85%). Und durch die Unsichtbarkeit der Strahlung leben die Menschen dort in einer trügerischen Sicherheit. Selbst in nächster Nähe des Kraftwerkes gibt es nur wenige visuell wahrnehmbare Zeichen der Radioaktivität: Von einem kurzzeitigen Aufenthalt im Frühjahr 2000 auf der anderen Seite des Grenzflußes Pripjat (ca. 5 km von Tschernobyl) sind mir vor allem die vielen singenden Sprosser und der herrlich blühende Flieder in Erinnerung – wäre da nicht der düstere Betonblock in Sichtweite gewesen und die erschütternden Gedanken an das, was hier vor 14 Jahren geschehen war.

Was ist nun das drängendste Problem Weißrußlands unter den Folgewirkungen des Unfalls und wie kann man effektiv Hilfe leisten?

Um zu diesen Fragen zu informieren, fand im Februar eine Vortragsreise von Prof. Nesterenko aus Weißrußland durch Norddeutschland statt. Professor Nesterenko ist Atomphysiker, korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften Weißrußlands und leitete von 1977-1987 das Institut für Kernenergetik der AdW. 1986 war er direkt an den Rettungsmaßnahmen nach der Havarie beteiligt und heute leidet er selbst unter gesundheitlichen Folgeschäden, was ihn jedoch nicht davon abhält, unermüdlich für eine Verbesserung der Lebensbedingungen in den verstrahlten Gebieten zu arbeiten. Seit 1990 ist er Direktor des unabhängigen Instituts für Strahlensicherheit (BELRAD) in Minsk. Dieses Institut wurde 1991 vom Staatlichen Tschernobylkomitee damit beauftragt, ein Netz von lokalen Strahlenkontrollzentren in den radioaktiv verstrahlten Gebieten zu organisieren. Bis zu diesem Zeitpunkt waren die Kontrollmessungen in den Bezirkszentren zentral durchgeführt worden - die radikal veränderte wirtschaftliche Situation des Landes gab aber Anlaß zu der Vermutung, daß die Bevölkerung entlegener Dörfer nie mit diesen Meßstellen in Berührung kam. Die von BELRAD eingerichteten 370 Meßstellen wurden dezentral in die Dörfer gebracht und dazu zumeist Lehrer aus den Dörfern als "Radiometristen" ausgebildet, die die Wartung der Strahlenmeßgeräte übernahmen. Außerdem wurde intensiv an der Aufklärung der Bevölkerung gearbeitet, z. B. über Gefährlichkeit verschiedener Lebensmittel und Möglichkeiten der Dekontamination. Vor etwa 4 Jahren sah sich der weißrussische Staat jedoch nur noch in der Lage, 100 der Meßstellen weiter zu finanzieren, und nun werden es jedes Jahr weniger. Prof. Nesterenko und seine Mitarbeiter versuchen daher, Gelder für die Weiterführung der Strahlenschutzmaßnahmen bei ausländischen Organisationen zu finden. Mittlerweile hilft u.a. die amerikanische MacArthur Foundation, so daß das Strahlungsmonitoring und die wissenschaftliche Arbeit zumindest teilweise abgesichert sind.

Aufklärung nötig

Dennoch kommt es immer wieder zu tragischen Situationen, die vor allem von mangelnder Information der Bevölkerung herrühren und von denen ich eine bei einem dreimonatigen Aufenthalt in Weißrußland im letzten Jahr selber miterlebt habe: Bei einer Messung der Körperstrahlung von Kindern einer Schule im Dorf Polessje, die von BELRAD-Mitarbeitern mit Hilfe eines mobilen Meßstuhls durchgeführt werden kann, stellte sich heraus, daß zwei Kinder Werte von > 1500 Bq/kg Körpergewicht Cäsium-137 aufwiesen (ab 20 Bq/kg ist die Gefahr größerer gesundheitlicher Probleme gegeben). Es zeigte sich, daß sie Geschwister waren und auch die anderen Kinder der Familie ähnlich hohe Werte hatten. Das Meßteam fuhr daraufhin zu dieser Familie und zu Hause fand man auf dem Ofen einen großen Sack, an dem der Geigerzähler wie verrückt ausschlug - Pilze, mit über 28 000 Bq/kg verseucht. Die Gehälter der Eltern reichten für nicht viel mehr als Brot für die fünf Kinder, so daß die tägliche Suppe mit Pilzen aus den umliegenden Wäldern gekocht wurde. Besonders die Mutter, eine Lehrerin, machte sich nun schwere Vorwürfe, ihre Kinder unwissentlich zu vergiften... In solchen Situationen, die bei weitem keine Einzelfälle sind, kann man auch mit wenig Geld viel ausrichten: Beispielsweise Pilze verlieren einen Großteil der Radionuklide, wenn sie mehrere Stunden in Salzwasser eingelegt werden. Für solche Informationen hat BELRAD ein Elterninformationsheft herausgebracht, welches auch für deutsche Tschernobylinitiativen vor Ort verteilt werden kann (Kostenpunkt 0,75 DM je Heft). Ähnliches gilt für die dörflich produzierte Milch, die Hauptquelle von Radionukliden (besonders Cäsium-137 und Strontium-90) für die 500 000 Kinder in den verstrahlten Gebieten. Mit preiswerten Milchseperatoren (ca. 104 DM, aus weißrussischer Produktion) lassen sich Sahne und Wasser trennen. Die Radionuklide, die sich an die Wassermoleküle binden, können so zu 90-95% abgeschieden werden und die mit unkontaminierten Wasser wiederverdünnte Sahne gibt nahezu saubere Milch für die Kinder. An den Meßstellen (Jahreskosten 1681 DM incl. Gehalt eines Radiometristen) können alle Arten von Lebensmitteln gemessen werden (die Strahlung ist äußerst heterogen verteilt) und anhand von Grenzwerten Einzelfallentscheidungen getroffen werden. Mittels bei BELRAD produzierter Pektinpräparate kann zudem bis zu 50% der inkorporierten Strahlung der Menschen abgetrennt und ausgeschieden werden. Erklärtes Ziel von BELRAD ist es, ein solches Maßnahmenbündel in möglichst allen 1100 Dörfern in der strahlenbelasteten Zone Weißrußlands umzusetzen. Doch allein aus Mitteln des weißrussischen Staates ist dies bei weitem nicht zu gewährleisten. Für Präsidenten Lukashenko scheint der Strahlungsschutz von 2 Millionen Staatsbürgern nur von untergeordneter Bedeutung zu sein, und ein Großteil internationaler Hilfen wurde mittlerweile eingestellt. Darüber hinaus erscheint es fragwürdig, wieso z.B. der zulässige Grenzwert für Milch 1999 in den neuen weißrussischen Richtlinien (RZGW-99) auf 100 Bq/l angehoben wurde (in Rußland liegt er bei 50 Bq/l), obwohl andererseits durch Ärzte des Krankenhauses Gomel eine signifikante Korrelation zwischen inkorporierter Strahlung bei Kindern und der Häufigkeit von krankhaften Veränderungen des Herz-, Kreislauf-, Immun-, Nerven- und Endokrinsystems nachgewiesen werden konnte.

Internationale Hilfe

Die Menschen in den verstrahlten Gebieten dürfen nicht alleine gelassen werden – Tschernobyl ist weder ein ukrainisches noch ein weißrussisches, sondern ein europäisches Problem! Aus Deutschland wird die Arbeit von BELRAD seit einigen Jahren durch das Jugendumweltbüro Hannover (JANUN e.V., Dr.h.c.Achim Riemann) unterstützt. In den ersten Apriltagen reiste eine Gruppe von Personen, die die Arbeit von BELRAD durch die Organisation von Schulpartnerschaften und verschiedenen Spendenaktionen seit langem fördern, nach Weißrußland. Wir konnten uns vor Ort von der gewissenhaften Arbeit des Instituts sowohl in Minsk als auch in den Dörfern in der „Zone„ ebenso wie von der dringenden Notwendigkeit der Maßnahmen überzeugen. Mit Prof. Nesterenko und seinen Mitarbeitern wurden weitere gemeinsame Projekte besprochen, z.B. die Initiierung von „Pektinpartnerschaften„ für besonders stark verstrahlte Kinder. Mit nur 40 DM im Jahr kann vor Ort eine viermonatige Pektinkur sowie fünf Messungen der Kinder durch BELRAD-Mitarbeiter gewährleistet werden. Uns erscheinen solche Maßnahmen deutlich effektiver als die vielerorts organisierten Ferienaufenthalte weißrussischer Kinder in Deutschland und anderswo – ohne das ehrenamtliche Engagement dieser Tschernobyl-Initiativen (z.B. auch Tschernobyl-Initiative Vorpommern e.V.) in Abrede stellen zu wollen. Vielleicht wäre eine Kombination dieses Ansatzes (bei dem zweifellos oft die privaten Kontakte im Vordergrund stehen) mit Pektinkuren und Aufklärungsarbeit über unverstrahlte Ernährung bei den Eltern der Kinder eine sinnvolle Option für zukünftige Projekte. Weißrußland liegt nur einige hundert Kilometer von uns entfernt. Strom aus Tschernobyl ist viele Jahre lang auch in unsere Haushalte geflossen. Auch wenn die Havarie von 1986 für viele von uns längst in Vergessenheit geraten ist – in den verstrahlten Gebieten steht heute die Gesundheit ganzer Generationen eines Landes auf dem Spiel. Durch das Institut BELRAD ist es möglich, Menschen, die unverschuldet durch die Katastrophe von Tschernobyl ihr Leben lang unter gesundheitsschädigenden Bedingungen werden leben müssen, direkt und äußerst effektiv zu unterstützen. Dank der Kooperation mit JANUN e.V. geschieht das unbürokratisch, schnell und ausführlich in deutscher Sprache dokumentiert. Denn jeder Tag, an dem sich Erwachsene und Kinder mitten in Europa von verstrahlten Lebensmitteln ernähren und dieses „Freilandexperiment„ aus Westeuropa nur beobachtet wird, ist einer zuviel.

Franziska Tanneberger

Spenden (steuerlich absetzbar) bitte an JANUN e.V., Postbank Hannover, BLZ 250 100 30, Konto-Nr. 578 282 301, Kontaktadresse: Jugendumweltbüro Hannover, JANUN e.V., Seilerstr. 12, 30171 Hannover, Tel. 0511-883491


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