Der junge Wolfgang Koeppen
Wolfgang Koeppen in seinem Arbeitszimmer
Hofseite des Literaturzentrums: Rechts ist der Anbau zu sehen, der das Wolfgang-Koeppen-Archiv beherbergen wird

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"Ich zündete die Stadt an" - Im Geburtshaus des Autors Wolfgang Koeppen entsteht ein Literaturzentrum

In seinem autobiographischen Text „Jugend“ beschreibt Wolfgang Koeppen seine Schwierigkeiten als Heran-wachsender mit dem provinziellen Greifswald der Jahre 1914-25. Nun wird sein seit langer Zeit zerfallendes Geburtshaus durch einen glücklichen Zufall saniert und zum Literaturzentrum umgebaut. Der Verein „Internationales Kulturaustausch-Zentrum“ hat die Trägerschaft übernommen und plant Erstaunliches.

Als im Jahre 1976 ein schmales Erzählbändchen mit dem Titel „Jugend“ erscheint, rückt der mittlerweile 70-jährige in München lebende Autor Wolfgang Koeppen noch einmal in das Interesse der Literaturkritik. Marcel Reich-Ranicki zählt ihn zu den bedeutendsten deutschen Schriftstellern der Gegenwart: „Vielleicht ist er der originellste Prosapoet, der vorzüglichste Stilist unserer zeitgenössischen Literatur“. Das Buch wird eine literarische Sensation. In 54 Textsequenzen schildert Koeppen eine gleichermaßen autobiographische wie fiktive Jugend im wilhelminischen Provinzstädtchen Greifswald - seiner Geburtsstadt (damals etwa 25.000 Einwohner). Als unehlicher Sohn aus verarmten Familienverhältnissen erfährt sich der Ich-Erzähler als deklassiert, als Außenseiter und Ärgernis. Ganz im Gegensatz zu seiner Mutter, die ihre soziale Stellung und somit Schicksal nicht im gesellschaftlichen Kontext verstehen kann, beginnt er, den Institutionen der Gesellschaft, von Gericht und Polizei, Universität, Krankenhaus, Irrenanstalt und Kasernen einen Spiegel vorzuhalten. Dabei beschreibt Koeppen die Reproduktion von Gewalt, Militarismus, antidemokratischer Gesinnung, Standesdünkel und Nationalismus. Der Erzähler verbündet sich mit den literarischen Figuren Shakespeares, Hölderlins, Dostojewskis und der Expressionisten und rechnet in einem furiosen Ich-Choral mit den miefigen konservativen Verhältnissen in Greifswald ab (siehe Auszug aus „Jugend“). Dann flieht er nach Berlin: „St. Nikolai drohte zuletzt wie eine erhobene Faust.“

Wolfgang Koeppen, der am 23. Juni 1906 in Greifswald geboren wurde, starb am 15. März 1996 in München. Neben dem Prosatext „Jugend“ galt sein literarischer Ruhm - wenn auch verspätet - der Romantriologie der 50er Jahre: „Tauben im Gras“, „Das Treibhaus“ und „Der Tod in Rom“, in der er die restaurativen Verhältnisse der jungen Bonner Republik beschreibt. Seine beiden ersten Romane „Eine unglückliche Liebe“ und „Die Mauer schwankt“ waren Anfang der 30er Jahre in einem jüdischen Verlag erschienen und blieben in der NS-Zeit weitgehend unbeachtet. Einem Emigrationsversuch nach Holland folgte die innere Emigration in Deutschland. Nach der Romantriologie schreibt er mehrere Bücher Reiseliteratur und wird mit literarischen Preisen überhäuft. Auf Initiative einiger Koeppenfreunde wird der Autor 1990 Ehrendoktor der Universität Greifswald. Die Stadtvertreter brauchen etwas länger und diskutieren: Was hat Koeppen denn für Greifswald geleistet? (siehe abermals Auszug aus „Jugend“ - sic!) 1994 bekommt er dann aber doch die Ehrenbürgerwürde der Hansestadt. Ob es ihm etwas bedeutet hat? Zumindest nimmt er die Ehrungen als eine späte „Wiedergutmachung“ an. Noch vor seinem Tode treffen sich 1995 Literaturwissenschaftler zur I. Internationalen Koeppenkonferenz in Greifswald. Zeitgleich wird eine Ausstellung zu Leben und Werk präsentiert. In Greifswald tut man sich mancherorts dennoch schwer mit diesem „Nestbeschmutzer“ . Zwar gelingt es mit Hilfe von Sponsoren, den Nachlass des Autors an das hiesige Germanistische Institut zu holen, sein Geburtshaus in der Bahnhofstraße neben dem sanierten Begegnungszentrum der Universität verfällt aber zusehends.

Stockholm. Verleihung des Literaturnobelpreises an Günter Grass. Zurück in Lübeck liest der frisch gekürte Nobelpreisträger eine kurze Zeitungsnotiz über den Zustand des Geburtshauses seines geschätzten Kollegen und Brieffreundes Wolfgang Koeppen. Der zur Gratulation angereiste Bundeskanzler Gerhard Schröder wird kurzerhand in die Pflicht genommen. Er verspricht den größten Teil der Sanierungskosten aus Bundesmitteln aufzubringen. Stadt und Land müssen nachziehen. In einer Vereinbarung wird die Einrichtung des Literaturzentrums Vorpommern im Koeppenhaus beschlossen. Der geplante Träger, die Internationale Koeppen-Gesellschaft, zieht sich nach internen Querelen und unklarer Finanzierungslage zurück. Vielleicht ein Glück im Unglück wie sich herausstellen könnte. Denn nach der wissenschaftlich orientierten Gesellschaft, wird nun mit dem Internationalen Kulturaustausch-Zentrum (IKAZ) ein Träger aus der freien Kulturszene das Literaturzentrum bewirtschaften und verstärkt auf öffentlichkeitswirksame Angebote zielen. Die wissenschaftliche Arbeit an Koeppens Werk bleibt durch das Koeppen-Archiv der Universität, das in den Anbau des Koeppenhauses zieht, gewährleistet. Zu den Protagonisten des IKAZ zählen junge Künstler und Kulturorganisatoren, die seit einigen Jahren Projekte in Greifswald inszenieren, die vielfach ganz im koeppenchen Sinne vom Spannungsverhältnis Jugend/Provinz leben. Dazu gehören die Zeitschriften „Wiecker Bote“ und „Zonic“ (siehe folgende Artikel) sowie Veranstaltungsreihen im Cafe Quarks, IKUWO, der Alten Druckerei im Rahmen des PolenmARkTes, der Polnischen Woche und der Greifswalder Literaturtage. Im zukünftigen Literaturzentrum wird es ein Café, einen Ausstellungsraum und eine Leselounge für Veranstaltungen geben. Dabei wird Literatur nicht nur in Lesungen, sondern auch als Sound & Poetry-Reihe, in Theaterprojekten, in Filmvorführungen und anderweitig multimedial präsentiert. Den Schwerpunkt, neben Koeppen, bildet zeitgenössische Literatur aber auch die progressiven literarischen Traditionen Greifswalds, wie Oskar Kanehl, Richard Huelsenbeck, Walter Serner u.a. werden gepflegt. Auf der Leipziger Buchmesse vom 21.-24. März wird das Literaturzentrum und die beteiligten Projekte erstmals vorgestellt, ehe am Koeppengeburtstag, dem 23. Juni die Einweihung (Abschluß der Sanierungsarbeiten) mit einer Veranstaltung im Theater Vorpommern gefeiert wird. Der reguläre Programmstart in der Bahnhoftsraße ist für Anfang Oktober geplant. Greifswald wird dann endlich um einen lange vermissten Ort freier Kulturarbeit reicher.
Da die Finanzierung bei allem Idealismus die Achillesferse bleibt, bittet der IKAZ e.V. um Unterstützung für das geplante Programm. Es besteht die Möglichkeit Fördermitglied zu werden (Studenten 2,50 Euro mtl. / sonst ab 5 Euro mtl.) oder auf das Konto 11 02 02 8, Volksbank Raiffeisenbank, BLZ 150 616 38 zu spenden.
alx

Weitere Informationen:

IKAZ e.V.
Postfach 13 24
17466 Greifswald
info@ikaz.org
www.literaturzentrum.org


Aus der Erzählung „Jugend“

In meiner Stadt war ich allein. Ich war jung, aber ich war mir meiner Jugend nicht bewusst. Ich spielte sie nicht aus. Sie hatte keinen Wert. Es fragte auch niemand danach. Die Zeit stand still. Es war eher ein Leiden. Doch es gab keinen, der mir glich.
Ich trieb mich herum. Ich war unterwegs. Ich war auf den Straßen und Plätzen. Ich fiel überall auf. Ich hatte kein Ziel. Ich stellte mich mitten auf den Markt. Ich war unnütz; das gefiel mir. Ich genoss es, auf dem Markt zu stehen. Einfach nur so. Ich hatte nichts anzubieten. Nicht einmal mich selbst. Ich wollte nicht teilhaben. Ich verachtete sie. Ich kannte die Kurse nicht. Ich fragte nicht nach dem Preis.
Ich zündete die Stadt an. Erdmanns Warenhaus brannte. Eine Fackel in der Nacht. Das Rathaus brannte. Meine Stammrolle verbrannte. Das war gut. In Flammen stand das Gericht. Ich öffnete das Gefängnis. Ich verteilte die Waren der Geschäfte an die Armen und die befreiten Gefangenen. Aus Buggenhagens Buchhandlung bekam jeder ein Buch. Das Geld der Sparkasse auf die Straße. Kinder spielten mit den Scheinen, formten Schiffchen, setzten sie in die Gosse.
Vielleicht liebte ich die Stadt. Ich stülpte sie um. Ich vernichtete ihre Ordnung. Ich störte die Feier.
Die Bilbiotheken zogen mich an. Ich suchte sie heim, gierig und süchtig. Zu ihren Verwaltern war ich wie ein Liebhaber, unwiderstehlich. Die Bibliothekare waren wehrlos. Sie wurden mir hörig. Sie öffneten ihre Schränke, trennten sich von ihren Schätzen. Ich breitete Schrift um mich aus. Ich verschlang, was gedruckt war. Ich vergaß mich. Auf belebtem Platz saß ich wie trunken. Das Alphabet trug mich fort.
Ich versuchte die Stadt. Ich war ein Ärgernis. Ich wollte ein Ärgernis sein. Die Ordnung beobachtete mich. Die Bürger mikroskopierten mich in ihren Fensterspiegeln. Sie sahen ein Ungeheuer. Die Ordnung fühlte sich herausgefordert und wünschte ein Gesetz. Alle Ertüchtiger bliesen zur Jagd. Sie pirschten sich ran. Sie umstellten mich. Sie bauten Fallen, in die ich nicht fiel. Ich tat nichts. Ich tat keinem etwas. Das war verdächtig. Das war böse.


Lesetipps

Jugend
Stilistisch großartige Erzählung einer wahrhaft anarchistischen Jugendrebellion.

Jakob Littners Aufzeichnungen aus einem Erdloch
Beklemmende, dokumentarische Erzählung über die Judenverfolgung der Nazis.

Tauben im Gras
Koeppen skizziert kaleidoskopisch einen einzigen Tag im München des Jahres 1949. Der Krieg hat enttäuscht, erbittert, verarmt aber nichts wesentlich geändert.

Das Treibhaus
Es wird von einem Abgeordneten in der jungen Bonner Republik erzählt, der politische Verantwortung übernimmt und daran scheitert. Das Treibhaus-Klima von Wahlkampf, Diplomatie und Opportunismus verdeutlicht, was Koeppen von Politik hält, sie ist Geschäft, und wer sich nicht anpasst, ist verloren.

Der Tod in Rom
Die Vitalität des Faschismus noch lange nach 1945 wird geschildert. Rom, die Stadt Cäsars, Mussolinis und des Heiligen Vaters, wird zum gespenstischen Hintergrund, vor dem sich folgerichtig fortsetzt, was unter dem Nazi-Regime noch als legal getarnt werden konnte.

Nach Russland und anderswohin
Der Erzähler in Koeppens sentimentalischen Reisen hat sich die Rolle eines naiven Weltfremdlings zugelegt.


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