Da war einst ein Mann ...
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Da war einst ein Mann ...

In dem Dorf, in dem er lebte, munkelte man, er könne zaubern. Nachts, wenn alles dunkel war, flackerte gelbes Licht hinter den Fenstern seiner Hütte und die Nachbarn glaubten bei Sonnenuntergang, das heisere Schreien von Raben und ein hohles, geisterhaftes Wiehern zu hören. Kaum war die Sonne jedoch hinter dem Horizont verschwunden, zog ein Schatten außen an den Fenstern vorbei und kurz darauf erklang das dumpfe Klappern von Hufen, das sich in der Ferne verlor. Jahrelang ging es so, ohne dass sich jemand des Nachts an die Hütte des alten Mannes herangewagt hätte, um zu sehen, was da vor sich ging. Der Mann wurde älter und älter und sein Rücken beugte sich unter der Last der Jahre. Frauen, die er einst als Säuglinge auf den Armen getragen hatte, tuschelten hinter vorgehaltener Hand, dass die Zauberkraft ihn am Leben erhielte, aber einen schrecklichen Tribut von ihm fordere, und die Männer, die den Mann nicht anders kannten als eben jenen alten Mann mit den schlohweißen Haaren und dem wallenden Bart, erzählten sich im Wirtshaus, er halte die Pferde des Teufels in seinem Stall und ließe sie nur nachts hinaus, damit der Gehörnte nicht käme, um sie sich zu holen. Eines Tages jedoch wurde im Dorf ein Kind geboren, ein Junge mit blondem Haar und grauen Augen, die nicht anders in die Welt sahen als die Augen anderer Kinder auch. Er wuchs heran wie alle anderen, spielte, half seinen Eltern auf dem kleinen Hof und hütete Schafe. Doch eine Sache machte ihn in den Augen der Dorfbewohner zu etwas Besonderem: In der Nacht seiner Geburt war die Hütte des alten Mannes dunkel geblieben, kein Hufschlag und keine Rabenschreie waren zu hören gewesen. Ein Nachbar schwor bei seinem Blut, er habe den alten Mann in dieser Nacht vor seiner Hütte stehen sehen, wie er lange Zeit zu dem kleinen Haus hinübergeblickt hatte – bis das Schreien des Neugeborenen erklang und der Alte in seine Hütte zurückgegangen sei. Als der Junge älter wurde, bekam er bald die Geschichten mit, die sich die Dorfbewohner über ihn und über den alten Mann erzählten. Er ertappte sich dabei, wie er immer wieder zu der Hütte des Mannes hinübersah und oft an ihr vorbeiging, selbst wenn sie gar nicht auf seinem Weg lag. Er sah dabei immer den alten Mann, wie er auf der Bank neben der Tür saß und ihn jedesmal mit einem freundlichen Nicken grüßte. Gütig sah er aus, mit seinem weißen Bart und den langen weißen Haaren. Wasserblaue Augen glitzerten munter über der geraden Nase, die wie ein Vogelschnabel aus dem faltigen Gesicht hervorstach. Auf der rechten Schulter des Mannes saß oft ein großer Rabe, der den Jungen mit klugen schwarzen Augen misstrauisch zu mustern schien. Die Jahre vergingen und aus dem Jungen wurde ein junger Mann, dem die Mädchen im Dorf hinterhersahen, doch es schien keine einzige zu geben, für die er sich interessierte. Nach einiger Zeit begannen die Leute sich wissende Blicke zuzuwerfen, wenn er vorbeiging und er hörte geflüsterte Worte wie „verhext“ und „Du weißt doch, in der Nacht, als er zur Welt kam...“. Der junge Mann störte sich nicht weiter daran, sondern ging seinen Weg durch das Dorf, ohne auf die getuschelten Worte zu achten. Innerlich aber verzehrte er sich fast vor Neugierde. Auch er hatte das Licht in der Hütte des Alten gesehen und die merkwürdigen Geräusche in der Nacht gehört. Seitdem seine Eltern gestorben waren und seine jüngere Schwester vor zwei Monaten einen Mann aus dem Nachbardorf geheiratet hatte, lebte er allein auf dem kleinen Hof seiner Eltern und unternahm Spaziergänge, die ihn immer an der Hütte des alten Mannes vorbeiführten. Nie jedoch hatte er mit dem Alten gesprochen und noch nie war er bei Nacht zu der Hütte gegangen, selbst als er spürte, dass er von dem gelben Licht angezogen wurde wie eine Motte von einer Kerzenflamme. Der Sog wurde immer stärker, bis er schließlich nächtelang am Fenster stand und auf den Lichtschein starrte. Eines Nachts endlich hielt er es nicht mehr aus. Er hatte wie immer das Krächzen der Raben, das Wiehern und den leiser werdenden Hufschlag gehört und sich dann stundenlang unruhig im Bett herumgewälzt, ohne Schlaf finden zu können. Bevor er weiter nachdenken konnte, hatte er sich schon angezogen und war aus dem Haus und ehe er auch nur überlegen konnte, wie er dorthin gekommen war, stand er vor der Tür der erleuchteten Hütte. Das Licht war so hell, dass er durch die Fenster nichts erkennen konnte und ein Funken Angst glomm in ihm auf. Doch das Licht überstrahlte das winzige Flämmchen und umfing den jungen Mann, lockte ihn mit sanftem Schimmer, lockte ihn wie ein bezauberndes junges Mädchen, verheißungsvoll, mit glockenhellem Lachen, lockte ihn näher, rief ihn hinein ins Haus. Er stieß die Tür auf, ohne recht zu wissen, was er tat und wurde von Helligkeit umflutet, kaum dass er über die Schwelle trat. Es war, als wäre er in ein Meer aus Licht getaucht, dessen sanfte Wellen sich an den Wänden brachen. Doch er hatte keine Augen für das Innere der Hütte, sein Blick war von der schimmernden Kugel auf einem Tisch in der Mitte des Raumes gefangen. Dem jungen Mann kam es vor, als käme alles Licht dieser Welt aus dieser einen zerbrechlichen Kugel, die ihn anzog und lockte wie eine geduldige Mutter ihr erschrockenes Kind. Er wusste nicht, wie er dorthin gekommen war und wie lange er sich schon in der Hütte befand, doch als er aus seiner Starre erwachte, fand er sich auf einem Stuhl am Tisch sitzend, die Wärme der Kugel unter seinen Fingern spürend. Geräusche von draußen hatten ihn aufgeschreckt und aus dem Bann der Kugel gerissen. Ein Poltern im Stall neben der Hütte verkündete die Rückkehr des Alten. Der junge Mann stand zögernd auf; es fiel ihm schwer, sich von der schimmernden Kugel zu lösen, die ihn immer noch zu sich rief. Ein knarrendes Geräusch ertönte und mit großer Anstrengung riss der junge Mann seinen Blick von der Kugel los und sah zur Tür. Dort stand eine hochgewachsene Gestalt in langem schwarzen Umhang, der scheinbar alles Licht in sich aufsaugte und die Gestalt zusätzlich in eine unnatürliche Dunkelheit hüllte. „So“, stellte die Gestalt mit tiefer, volltönender Stimme fest. „Du bist also doch noch gekommen. Hast lange gebraucht.“ Die Kapuze wurde zurückgeschlagen und der junge Mann blickte in das gütige, jedoch unsagbar müde Gesicht des Alten. Der Jüngere wich einen Schritt zurück, als der alte Mann weiter ins Zimmer trat und die Tür schloss. Er folgte ihm mit Blicken, als der Alte den Umhang ablegte und an einen Nagel an die Wand hängte. Dann konnte er regelrecht zusehen, wie der Mann vor ihm in sich zusammenfiel, kleiner und gebeugter wurde, bis ein uralter Mann in schlammbespritzter Kleidung vor ihm stand, der nicht das Geringste mit der unheimlichen dunklen Gestalt, die er zuvor gewesen war, gemeinsam hatte. Das Leuchten der Kugel war indessen immer dumpfer geworden und so konnte der junge Mann wieder etwas klarer denken. Die alten Geschichten fielen ihm ein und er fragte mit rauer Stimme: „Wer bist du?“ Der alte Mann lachte lautlos, hustete keuchend und ging mit vorsichtigen Schritten zum Tisch, wo er sich mit einem dankbaren Seufzer auf den Stuhl fallenließ. „Ach, Junge, mein Name ist unwichtig geworden mit der Zeit, es gibt sowieso keinen mehr, der ihn noch weiß, hab‘ ihn sogar selbst vergessen.“ Er verstummte nachdenklich und berührte die Kugel sanft mit den Fingerspitzen. Das kaum mehr wahrnehmbare Leuchten wurde wieder stärker. Nach einem Moment des Schweigens sagte der Alte: „Sie weist mir jede Nacht den Weg zurück nach Haus, wie ein Leuchtfeuer. Ihr Licht zieht mich an wie der Ruf einer fernen Geliebten. Hat auch dich gerufen, hm? Ich habe mich schon gewundert, wie du ihr so lange widerstehen konntest, kam schon ins Zweifeln.“ Der junge Mann sah ihn scharf an. „Zweifeln woran?“, fragte er und blickte auf die langen, schmalen Finger des Alten, die sich um die Wölbung der Kugel legten. „Zweifel daran, ob du der Richtige bist, ob du den Ruf der Kugel überhaupt hörst, ob du meine Aufgabe übernehmen kannst..., Zweifel eben.“ Er löste seinen Blick von der Kugel und sah den jungen Mann an, der daraufhin einen weiteren Schritt zurückwich. „Aber du bist der Richtige.“ Der junge Mann sah zur Tür. Sicher konnte er draußen sein, bevor der Alte auch nur aufgestanden war. Doch er blieb, denn das, was er hörte, machte ihn auf unverständliche Art wütend. Es klang, als habe der Alte auf ihn gewartet, als sei sein Leben vorherbestimmt gewesen, ohne dass er etwas dagegen tun konnte. Er fühlte sich hilflos und verraten. „Was soll das heißen: ’Der Richtige‘? Sprich nicht in Rätseln! Und sag mir endlich, wer, zum Teufel, du bist!“ Der alte Mann ließ den kurzen Ausbruch einfach über sich hinwegrauschen und antwortete mit einem feinen Lächeln: „Nein, mit dem Teufel habe ich wenig zu tun. Ich bin der Tod, der die Menschen nachts sanft im Schlaf holt. Jeden Abend, bei Sonnenuntergang, kommt die schwarze Stute zu mir. Ich sattle sie und reite in die Nacht. Vier Raben fliegen mir voraus, fliegen in alle vier Himmelsrichtungen und weisen mir den Weg zu den Menschen, deren Zeit vorüber ist. Dann bin ich da, wenn der große Tod den kleinen ablöst und geleite ihre Seelen nach Haus. Wenn der Morgen graut, kehre ich um und das Licht der Kugel weist mir den Weg nach Hause. Heute hatte ich nicht so viel zu tun und ich kam eher zurück. Dann sah ich, dass du da bist und ich war froh. Denn siehst du, ich bin alt, alt und müde, und ich möchte schlafen, nach all den Jahren, verstehst du?“ Der junge Mann schluckte und nickte ohne sich zu rühren. Der Alte schloss die Augen und sagte leise: „Dann nimm den Umhang, er gehört dir. Du kannst ihn erst abgeben, wenn du spürst, dass es Zeit für dich ist. Geh nur, lass mich schlafen, ich bin müde. Und keine Angst, ich finde den Weg selbst, bin ihn schon so oft gegangen.“ Der junge Mann wusste nicht, was er sagen sollte, deshalb nahm er schweigend den Umhang vom Haken und verließ die Hütte, ohne sich auch nur einmal umzusehen. Am nächsten Morgen, als die Dorfbewohner aufwachten, war die Hütte des alten Mannes wie vom Erdboden verschluckt, an ihrer Stelle war ein einfaches Grab mit einem Grabstein ohne Inschrift angehäuft. Die Dorfbewohner fühlten sich, als wäre ein Schatten von ihnen genommen worden und hatten genug Gesprächsstoff für die nächsten Jahre. Als es dann Abend wurde und die letzten Wirtshausbesucher – und das waren an diesem Tag viele gewesen – nach Hause gingen, hörte man das wohlbekannte Krächzen der Raben und das geisterhafte Wiehern. Ein dumpfer Hufschlag erklang und verlor sich in der Nacht. Und auch das Licht schien wieder durch ein Fenster, ein Leuchtfeuer in der Nacht. Wie das Lachen eines jungen Mädchens, lockend und rufend.

Yvonne Kaschube


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