klicke auf's Bild

"Dies ist der Anfang eines Polizeistaats"

Bericht eines Arztes aus Seattle über die Polizeiaktionen gegen Anti-WTO Demonstranten im Dezember '99:

Ich heisse Richard DeAndrea. Ich bin Arzt. Was ich hier gesehen habe, war Belagerungszustand [martial law]. Dies ist ein Polizeistaat geworden. Alles, was Sie im Fernsehen an lokalen Nachrichtensendungen inklusive des nationalen öffentlichen Rundfunks gesehen haben, war ein Blackout. Die Polizei benutzte "concussion grenades"(?). Sie schossen Tränengasbehälter direkt auf die Gesichter der DemonstrantInnen. Sie verwendeten sogenannte Gummigeschosse. Diese bestehen in Wirklichkeit aus Hartplastik. Einige der Verletzungen, die ich sah: Diese Plastikgeschosse schossen einen Teil des Kiefers einer Person weg, zertrümmerten die Zähne in den Mündern anderer Leute. Ich sah, wie die Polizei Leute einsperrte, die ihre Hände hochhielten und schrien “Wir protestieren friedlich”. Das Ausmass an Plünderungen war so minimal, dass ich nicht einmal weiss, woher sie die Filmaufnahmen genommen haben. Ich sage dies ohne einen Anflug von Zweifel. Dies ist ein klares Zeichen dafür, dass Amerika auf einen Polizeistaat zugeht, wenn die Leute nicht anfangen, für ihre Persönlichkeitsrechte aufzustehen. Ich bin wirklich schockiert und beschämt. Ich schäme mich für die Polizeigewalt, ich schäme mich für den Bürgermeister, ich schäme mich für Bill Clinton. Ich schäme mich für die ganze Sache. Gummigeschosse werden aus einem polyesterähnlichen Material hergestellt. Sie sind wie ein hartes Plastikspielzeug. Die Idee ist, deinem Körper einen Schlag zu verpassen, zu verletzen, aber nicht wirklich einzudringen. Aber ich habe sie gesehen, die offenen Wunden, ich habe Leute bluten sehen. Ich habe Zahnverluste und gebrochene Knochen gesehen. Da waren Kinder dabei, da waren Familien, sie schossen auf Familien, Mütter, Grossmütter. Sie haben einfach auf sie geschossen. Sie fuhren die ganze Polizeigewalt auf. Sie schickten Schlägertrupps, sie hatten die Nationalgarde dabei, der CIA umringte die Delegiertengebäude. Es war ganz offensichtlich, dass da eine Einsatzleitung am Werk war, die sich um so etwas wie Menschenrechte nicht scherte. Weiterhin haben wir Videomaterial von DemonstrantInnen, die weggetragen wurden, sowie von Menschenrechtsverletzungen. Es wurden Gefangene gemacht und sie wurden gefoltert. Wir behandeln Leute in Wohnstudios im Stadtzentrum. Ich habe gerade eine Wunde am Ohr versorgt. Es wurden Leute mit Gehirnerschütterung behandelt. Es gab Leute, die an Wunden von Plastikgeschossen behandelt wurden. Sehr viele Tränengasverletzungen, sehr viele Hornhautverletzungen, sehr viele Verletzungen der Augen und der Haut. Sie benutzten Pfefferspray, ein Tränengas. Sie haben mit den Leuten im Gefängnis einige illegale Sachen gemacht. Sie haben ihnen immer wieder erzählt, dass sie nicht freigelassen würden, ihre Kaution nicht akzeptiert würde, wenn sie nicht ihren Namen nennen würden. Es ist ihr gutes Recht, ihren Namen nicht zu nennen. Sie müssen im Grunde überhaupt nicht sprechen. Es kamen RechtsanwältInnen dazu und sagten, sie würden diese Leute vertreten. Die Polizei nannte die RechtsanwältInnen Lügner. Darauf verweigerten sie ihnen noch, mit irgendeinem ihrer Klienten Kontakt aufzunehmen. Es wurden nahezu 600 Leute eingesperrt und sie haben sie für zwei Tage dort gehalten, wegen Schuldvorwürfen, die in den meisten Fällen leichte Vergehen sind, wie z.B. Weigerung, sich zu entfernen [refusal to disperse]. Die meisten Leute dort haben zudem keine medizinische Versorgung bekommen. Heute gab es weniger Angriffe durch die Polizei, aber sie haben mehr Leute eingesperrt. Und es gab heute keine Gewalt durch die MarschiererInnen und gestern war es den ganzen Tag genauso. Was Sie im Fernsehen von Plünderungen und anarchistischen DemonstrantInnen sehen - das ist eine glatte Verfälschung der Tatsachen, und im Grunde fördern sie damit das Ganze noch. Ich hatte bisher geglaubt, die Zeitungen würden die Wahrheit berichten. Aber jetzt stehe ich nicht länger dazu. Das ist der Anfang eines Polizeistaats. Damit dürfen Sie mich zitieren.

(Veröffentlicht unter www.emperors-clothes.com; 4.12.99 ein Uhr nachts. Übersetzt vom Englischen ins Deutsche am 5.12.1999 von: Matthias Kaldenbach, mail to: m_kalden@informatik.uni-kl.de)


  zurück zur Ausgabe 4 zurück zur Hauptseite