Blockiert

Setz dich hin, du Kleinbürger! Der häßliche schwarze Hund dort, ein Riesenschnauzer, bäumt sich auf, zerrt an der Leine. Ein Mann diskutiert mit dem Polizisten, der den Hund hält.

Wieso bin ich ein Kleinbürger, fragt der grauhaarige und graubärtige gepflegte Gewerkschafter im Anzug empört vom Rand der Sitzblockade zurück, nur weil ich mich nicht hinsetze?

Zwei Reihen Bullen. Helme, Schlagstöcke. Das Visier offen, die Gesichter sind zu sehen. Männer und Frauen. Nele versucht, einen Ausdruck in ihnen festzustellen. Sie sehen normal aus.

Jemand sagt: Der Hund hat einen gebissen.

Lastkraftwagen fahren in Kolonne vor. Räumpanzer und Wasserwerfer. Die Nachricht war schon durchgesickert. Die Spannung steigt. Hunde, Schlagstöcke und Wasserwerfer. Nele strengt sich an. Sie stellt sich einen harten, armdicken Wasserstrahl vor, Hundezähne, die sich in sie graben und den schneidenden Schmerz niedersausender Hiebe. Ihre Phantasie muß viel leisten. Sie hat gelesen, daß die Gummiknüppel deutscher Polizisten vor einigen Jahren durch härtere und längere ersetzt worden sind. Von dem armdicken Strahl hat sie in Zeitungen gelesen. Von den Hunden in KZ- Berichten.

Sie bleibt trotzdem sitzen. Im Schneidersitz auf der Straße. Wenn es sein muß. Sie sieht sich um. Wie ist sie überhaupt in die erste Reihe geraten? Typisch. Warum immer die erste Reihe, überlegt sie mit heißem Kopf. Zettel mit Anweisungen vom Ermittlungsausschuß gehen herum. Auf den Zetteln fehlt die Telefonnummer. Jemand weiß die Nummer. Neles Freund findet einen Stift in seiner Tasche. Nele schreibt sich die Nummer blau auf den Arm, direkt unter der linken Hand. Der Stift wandert. Hinter ihr, zwei weite Meter entfernt, sitzen die Falken. Offensichtlich veranwortlich für das Ganze. Aus ihrer Flüstertüte tönt auf-munternd humanistisches Gedanken- und Liedgut.

Grün, ja grün sind alle meine Kleider, grün, ja grün ist alles, was ich hab. Darum lieb ich alles, was so grün ist, weil mein Schatz ein Bulle ist!

Nele lacht. Sie betrachtet die Gesichter der Bullen, ob sie auch lachen. Sie lachen nicht. Offensichtlich dürfen sie nicht. Zwölf Uhr mittags. Sozusagen. Eigentlich halbzwei. Um diese Zeit ist es noch wärmer. Nele klammert sich an ihren Freund. Ich klammere mich nicht an ihn, denkt sie. Sie erwartet von ihm doch keinen Schutz. Daß sie sich bei ihm eingehakt hat, bedeutet, daß sie den Bullen die Räumung erschweren will. So hat sie es gelesen. Oder gehört. Sie nimmt sich fest vor, keinen Widerstand zu leisten. Links von ihr sitzt eine Frau um die fünfzig, eine Freundin. Gerade aus Kuba zurück. Anschließend drei Wochen depressiv. Kulturschock. Schon die Gesichter der Leute auf dem Flugplatz in Berlin.

Nele zieht ihre Lederjacke aus. Dann zieht sie ihren schwarzen Baumwollpullover aus. Zum Vorschein kommt ihr rotes T- Shirt mit Che- Guevara- Aufdruck. Nele bindet sich den schwarzen Pullover um und knotet die Jacke um die Schultern, damit beide Kleidungsstücke bei der bevorstehenden Räumung nicht verlo-rengehen. Che ist nicht mehr erkennbar. Sie stellt sich vor, wie albern sie nun aussehen muß, mehrfach umwickelt. Und an einen Mann geklammert.

Glaubst du, daß sie räumen? fragt sie ihn.

Ein Bekannter taucht auf. Ein blonder Punk. Er setzt sich neben Neles Freund. Sie ist froh, einer mehr in ihrer Reihe.

... vom Rad geholt, versteht sie. Er zeigt Schürfwunden am Ellenbogen. Er ist gestürzt, denkt sie. Die Sonne hat sich zum Zehnfachen ihres gewöhnlichen Formats ausgedehnt und verausgabt ihre gesamte Energie, um den Platz und die Straße der fremden Stadt zu erhitzen. Neles Phantasie ist ebenfalls erhitzt. Wasserstrahl... Knüppel... Reißzähne... Wenn die vorstürmen und mich wegschleppen... meine Sonnenbrille... Das teure Stück wird runterfallen und auf der Straße liegenbleiben. Nele setzt die Brille sofort ab, steckt sie in die Jackentasche. Sie blinzelt entnervt. Das Blinzeln macht einen souveränen und gefaßten Gesichtsausdruck unmöglich. Nach einer Minute setzt sie die Sonnenbrille wieder auf. Sie beobachtet die Bullen. Sie setzt die Brille ab. Dann setzt sie sie wieder auf. Ein paar Bierdosen fliegen nach vorn. Sie fliegen nicht bis zu den Uniformen.

Ich fahre notfalls mit der Bahn nach Hause. Ich kann nicht bei euch bleiben. Suse ist hektisch. Sie hat einen Nachtdienst im Krankenhaus hinter sich, den nächsten vor sich. Für die Fahrt hat sie auf ihren Schlaf verzichtet, aber sie muß auf jeden Fall heute abend zum Dienst, darf nicht festgenommen werden. Sie stellt sich an den Rand. In Neles Rucksack findet sich eine Flasche Wasser. Ihr Freund trinkt, und der blonde Junge trinkt.

Glaubst du, daß sie räumen? fragt sie ihre Bekannte zur Linken. Ich darf keine Nervosität verbreiten, denkt sie nervös. Es sieht nicht so aus, sagt die Bekannte. Meinst du wirklich? fragt Nele zersetzend. In die statischen Reihen vor ihr kommt Bewegung. In Zeitlupe sinkt eine der uniformierten Gestalten um, in Zeitlupe greifen die umstehenden Uniformierten zu, tragen sie weg. In drei Sekunden ist das erledigt. Stürmischer Beifall von den schwarzen Kids auf der linken Seite. Im Eilschritt nähern sich ihnen zwei bürgerliche Frauen und beginnen zu diskutieren. Nele ist unschlüssig. Sind Polizisten Menschen wie du und ich? Oder nicht?

Humanistischer Sprechchor von hinten: Samstags frei/ für die Polizei!

Die Bullen verziehen keine Miene. Nele sieht sich um. Sie möchte aufstehen und ein Stück zur Seite gehen. Eine bunte Menge hinter ihr. Bunte Luftballons. Über hundert Leute. Einige stehen am Rand. Macht nichts. Ich habe mit dem Einsatzleiter gesprochen, sagt der Gewerkschafter im grauen Anzug. Die Route der Nazis ist bis zu diesem Platz angemeldet, sagt jemand. Warum in der ersten Reihe, denkt Nele. Die Sonne schmettert Licht herunter. Nele hat kein abgezähltes Kleingeld dabei, wie vom Ermittlungsausschuß geraten. Sie hat überhaupt kein Geld dabei. Wenn sie und ihr Freund getrennt werden sollten, wo treffen sie sich? Wir treffen uns am Auto, sagt sie zu ihm, Mach einen Zettel für mich ans Auto, wenn du weggehst.

Und dann ist alles vorbei.

Eine kleine Pizza mit Oliven und Sardellen, eine kleine vegetarische Pizza in der Wohnung des blonden Jungen. Ziemlich wenig zu essen für vier Leute. Der Junge sagt: Ich möchte nichts. Ich glaube, ich muß das erstmal verarbeiten. Nele läßt sich eine Milch geben. Die andern trinken Kaffee.

Sie haben mich vom Rad geholt, erzählt der Junge, Zwei Zivilbullen. Personenkontrolle. Sie haben mir den Knüppel übergezogen. Plastikhandschellen. Tut ganz schön weh. Suse futtert ein Stück Pizza nach dem andern in sich hinein. Nele hat Angst, nicht genug abzukriegen. Wie war das genau? fragt ihr Freund den Jungen. Auf der Rückfahrt kaufen sie Kirschen. Suse schläft tief und fest auf dem Rücksitz wie ein Kind.


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