pusteblume | |
Ostvorpommern: "Wir stellen uns quer!" hieß es am 27.10.07 in Kemnitz |
20.11.2007 |
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Samstag 27.10. 11 Uhr Fischmarkt Greifswald | |
Langsam füllt sich der kleine Platz hinter
dem Rathaus mit Menschen. Wir haben eine Demonstration gegen den Atomtransport
am Dienstag organisiert. Was wir nicht wissen ist, ob der hier überhaupt
jemanden außer unserer Anti-Atom-Initiative interessiert. Wir rechnen
je nach Opti- oder Pessimismus mit 10 bis 50 Leuten. Es werden etwa 90 und
wir sind sehr zufrieden. Es kommen auch Gäste aus Rostock, der Altmark
und einer aus dem Wendland. Er spricht über den Atomausstieg und die
Machenschaften der Atomkonzerne, ein Brief aus Rheinsberg wird verlesen,
in dem besonders vor den maroden Brücken gewarnt wird, über die
der schwere Reaktordruckbehälter rollen soll. Dann ziehen wir mit unseren
Transparenten durch die Fußgängerzone und über einen Bogen
zurück. Viele Passanten sind neugierig und die Presse knipst eifrig.
Zum Schluss gibt´s noch 2 Ansprachen: Rike von der Greifswalder AAI
legt die Gründe für unseren Protest dar und Daniel aus Rostock
redet sich den Zorn über die Atommüllspirale von der Seele und
ruft alle zum Widerstand auf. Nach dem Aufräumen gibt es noch Kürbissuppe in unserem Treff, der für ein paar Tage als Küche, Materiallager und Infopunkt dient. Dann werden Pläne geschmiedet. Wer will wie und wo am Dienstag demonstrieren, was brauchen wir für Material, wer kommt ab Montag zur Mahnwache in Kemnitz? Das ist ein Dorf an der Bahnstrecke zwischen Greifswald und Lubmin. Ich entscheide mich für eine Sitzblockade mit allen, die ich dafür gewinnen kann. Nach der für Greifswald erstaunlich großen Demo rechne ich mit gut 30 Mitstreitern. |
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Dienstag, 30.10., 9 Uhr Mahnwache in Kemnitz | |
Es ist ein trüber Herbsttag und als ich
ankomme schläft einer und 3 sammeln im Nieselregen Holz für die
Feuertonne. Immerhin schützt ein großes Zelt unser Essen, das
Infomaterial, und den Schläfer, der die Nachtwache übernommen
hatte. Langsam trudeln ein paar Menschen ein, manche bleiben, andere fahren
wieder heim oder als Streckenposten Richtung Süden. Wir wissen nicht,
ob den offiziellen Angaben zu trauen ist. Wird der Zug wirklich erst um
11 Uhr abfahren und nicht schon im Morgengrauen wie beim vorigen Mal? Ein paar Journalisten kommen, fragen uns aus, schießen gestellte Fotos. Na klar, wir antworten gern und lassen uns vor den Transpis ablichten. Gute Presse brauchen wir dringend in einer Gegend, die einmal tausende Kernkraftwerker beherbergte. Viele sind inzwischen arbeitslos oder im Westen, manche leben jetzt vom Abriss des KKW Lubmin und der Entsorgung des anfallenden Atommülls. Einer davon kommt auch zur Mahnwache und will uns kennen lernen und diskutieren. Da ich sowieso nichts anderes zu tun habe, höre ich mir seine Geschichte an und versuche einen Meinungsaustausch über die ingenieurtechnischen Aspekte verschiedener Reaktortypen, Endlagerstandorte und Transportvarianten für Atommüll. Keine einfache Sache, aber ich finde dieses Gespräch wichtig und spannend. Er bleibt der einzige Dorfbewohner, der sich zu uns traut. |
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Dienstag, 30.10., 11:30 Uhr Mahnwache in Kemnitz | |
Wir bekommen die Nachricht, dass der Atommüllzug in Rheinsberg losgefahren ist, Endlich eine konkrete Angabe! Jetzt können wir uns ausrechnen, wann er hier sein wird. Langsam hellt sich der Himmel auf und die Stimmung steigt, auch wenn wir wenige sind. Wir haben Landkarten kopiert und jeder schaut sich die Stelle an, wo wir uns heute Abend auf die Schiene setzen wollen, falls uns die Polizei nicht vorher abfängt. Und wenn Plan A nicht klappt? Wir überlegen uns auch eine Ausweichvariante. Viel ist möglich, es gibt Felder, Bäche, Hecken und Wald in der Nähe. Wird wieder alles voller Uniformierter sein? Unsere Mahnwache ist jedenfalls unter ständiger Beobachtung. | |
Dienstag, 30.10., 17 Uhr Mahnwache in Kemnitz | |
Der Zug ist durch Neubrandenburg und wir wissen
nun, er fährt langsam und es dauert noch etliche Stunden. Kurze Zeit
später kommt ein Filmteam vom ZDF und möchte mit uns einen Beitrag
für die Abendnachrichten drehen, in Neubrandenburg war ihnen nicht
genug los. Als ob hier schon die Post abginge! Na gut, wir machen eine kleine
Spontandemo auf den Gleisen, lassen ein schwarz-gelbes Fass poltern, tragen
unsere Transparente in den Sonnenuntergang und lassen uns mal wieder interviewen.
Die Polizei schaut gelassen zu, denn alles ist nur fürs Fernsehen.
Wir wollen harmlos wirken und kriegen das auch klasse hin. Zurück bei der Mahnwache machen wir uns langsam ans Einpacken, denn diese ist nur bis 20 Uhr angemeldet. Die ersten verschwinden irgendwann einzeln oder zu zweit zu unserem Treffpunkt im Wald. Gegen acht verlasse ich mit den letzten von uns die Wiese in Kemnitz. Eben haben wir den Platz geräumt und der Polizei Bescheid gesagt, dass wir jetzt gehen. "Wohin denn, wollt ihr noch etwas unternehmen oder einen trinken gehen?" "Nö, lieber nach Hause und in die Badewanne." Da wäre ich jetzt wirklich gern, aber der Abend wird noch lang. Die Polizei darf davon natürlich vorerst nichts erfahren. Also tun wir wieder harmlos und obendrein durchgefroren, was wir ja auch mehr oder weniger sind. Dann geht es ab zum Treffpunkt, durch einen Wald, an einem Dorfrand entlang, über mondbeschienene Felder... |
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Dienstag 30.10. 22 Uhr Wald bei Friedrichshagen | |
Wir sind zu zwölft und sitzen wenige Meter
von der Bahnstrecke im Wald. Weit und breit ist kein Polizist zu sehen.
Wir vertreiben uns die Zeit mit heißem Tee und Gedichten. Jeden Moment
kann der entscheidende Anruf aus Greifswald kommen, dass der Zug in wenigen
Minuten bei uns ist. Stattdessen kommt ein Hubschrauber, doch wir bleiben
unentdeckt. Dann ein sich langsam näherndes Dröhnen und Licht.
Der Zug mit dem Reaktor: "Los! Rauf!" Alle sprinten die Gleisböschung
hoch, wer hat, knipst seine Taschenlampe an, um den Lokführer auf uns
aufmerksam zu machen. Der Zug hält hundert Meter entfernt und erst
dann setzen wir uns hin: Geschafft! Es war der richtige Moment und wir hatten
großes Glück. Denn eine andere Aktionsgruppe kam nur 1 km vorher
nicht zum Zuge, wegen massiver Polizeipräsenz. Nun bekommen wir Gesellschaft
von der Bundespolizei aus dem Zug, die übergeben die Blockade irgendwann
an eilig heran gepreschte Kollegen aus MV und die wiederum an eine andere
Einheit. Die uns schließlich räumen wird. Doch erstmal sitzen
wir eine gefühlte halbe Stunde auf der Schiene, unterhalten uns, versuchen
die Beamten zum Stromwechsel zu überreden und sind sehr fidel. "Aber
bitte nicht singen!" sagt ein Polizist, der schon Erfahrung mit solchen
wie uns hat. Protestlieder können einem manchmal wirklich auf die Nerven
gehen, Wir hatten eh nicht vor zu singen und wollen niemanden quälen,
also bleibt es bei Gedichten und Anekdoten. Schließlich kommen die vorgeschriebenen 3 Aufforderungen, die Strecke zu verlassen, wir bleiben natürlich und lassen uns wegtragen. Wobei wir nur ein Stück hoch und zur Seite gehoben werden und die Böschung runterkullern. Ohne unsere dicken Sachen hätte das wehgetan. Manche Griffe ins Gesicht waren wirklich schmerzhaft, aber nach wenigen Minuten ist alles vorbei, die Strecke wieder frei und die Polizisten etwas entspannter. Wir werden durchsucht, fotografiert (bis zu 3mal) und unsere Personalien werden aufgenommen. Dann verbringen wir eine ganze Weile in Gefangenenbussen und amüsieren uns köstlich. Denn die meisten Polizisten um uns herum sind jung und haben so etwas noch nie gemacht: sie rätseln über Formularen, Paragraphen und Protokollen. Außerdem haben sie mit ihren Hundertschaften das ganze Dorf zugeparkt und behindern sich jetzt gegenseitig. Als der Reaktor Lubmin erreicht, werden wir in Friedrichshagen wieder freigelassen. Jetzt schlagen wir uns durch die Büsche zu unseren Rädern und fahren zu unserem Treff, denn wir sind noch lange nicht fertig. Das Material wird sortiert und verstaut, Nachbereitung kostet eben auch Zeit. Und es beginnt die Vorbereitung auf den nächsten Transport. Spätestens 2009 erwarten wir Atommüll aus Karlsruhe, also aus einer westdeutschen Atomanlage, für den unser Zwischenlager ja angeblich nie gedacht war. Wir werden wieder protestieren, dann hoffentlich mit mehr Leuten, auf verschiedene Weise, an mehr Stellen und mit viel Unterstützung aus der ganzen Bundesrepublik! |
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