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Likedeeler 16, Frühjahr 2005

Hannu Raittila - Canal Grande
Aqua Alta auf finnisch  
Fünf Finnen sind im Auftrag der UNESCO nach Venedig gesandt worden, um dieses vor dem Aqua Alta, dem venezianischen Hochwasser sowie dem drohenden Versinken, zu retten. Überzeugt von der Richtigkeit ihrer finnischen Herangehensweise an solcherlei Probleme treffen der Ingenieur Marrasjärvi, der Privatdozent Heikkilä, der Kunstexperte Saraspää, die Kulturrätin Snell und die Sekretärin Tuuli in Venedig bei dicksten Nebel ein.  
 
Aber auch als sich dieser Nebel nach drei Wochen lichtet, stehen die Finnen der Lebensweise der Venezianer gegenüber, als wäre die Nebelwand immer noch zwischen ihnen und würde jeglichen konkreten oder produktiven Austausch im Keime ersticken.
Besonders der von Natur aus grundsolide und geradlinig denkende Marrasjärvi versucht alles in seiner Macht stehende, dem Projekt seinen Inhalt zu geben. Besonders in den Gesprächen mit Heikkilä, der wiederum Venedig ausschließlich durch die Brille der Gesellschaft- und Kunstgeschichte zu betrachten vermag, wird deutlich wie wenig er sich auf die hiesigen Lebensweise einstellen kann. So erkunden die beiden Venedig, Marrasjärvi ausschließlich aus der Betrachtung des Wasserflusses heraus, Heikkilä als sein selbsternannter Assistent, der dem Ingenieur pausenlos von geschichtlichen Entwicklungen der Kultur, Technik, Wirtschaft und Literatur referiert.
Gleichzeitig dient er Marrasjärvi als Dolmetscher, in dem er mit den Venezianern lateinisch spricht und ständig Synonyme für neuere Entwicklungen wie das Telefon erfindet. Dieses Gespann, welches nicht ohne Grund Saraspää an Don Chiotte erinnert, bringt in den Kanälen selbstgefertigte Messgeräte an, da das ihnen versprochene Büro sowie Technik auch nach Wochen nicht von den Behörden übergeben werden konnte. Scheinbar interessiert es niemanden, weder die anderen Kommissionen noch die Venezianer selbst, dass hier das Versinken der Stadt zu verhindern versucht werden soll.
Die übergewichtige und irgendwie ständig gehändigcapte Kulturrätin Snell sieht ihren Auftrag in Venedig hauptsächlich darin den anderen Delegationen der UNESCO und damit den anderen europäischen Wirtschaftsstaaten den Finnen sprich ihre Industrieprodukte näher zu bringen sowie das Budget nicht zu unterschreiten.
Drei Menschen - eine Geschichte - drei Ansichten
Canal Grande ist dabei mehr als eine Reisebeschreibung. Hannu Raittila lässt in diesem Buch drei Erzähler zu Worte kommen. Zunächst wechseln sich die tagebuch- ähnlichen Aufzeichnungen von Marrasjärvi und Saraspää ab. Der Kunstexperte beobachtet den Verlauf dieses Aufenthaltes mit ironischen, teilweise zynischen Bemerkungen. Er scheint über alles zu stehen, alles zu kennen bis auf den Tod und auch diesen wird er in Venedig ganz klassisch finden. Tuuli, die Sekretärin, kommt am Ende des Buches zu Wort. Ihre Sicht wird alles bisher Geschehene in einem anderen Licht darstellen, die eigentliche Geschichte hinter der Geschichte nach außen tragen.
Hannu Raittila konfrontiert seine Figuren mit zahlreichen Themen und so wird dieses Buch zu einer Auseinandersetzung mit den Kulturen Europas, ihrer Entwicklung und ihrer Weltpolitik. Der Leser findet zudem zahlreiche Anspielungen auf Geschichte, Literatur und Kunst. Umso wirkungsvoller ist die dahinter stehende, klare Situationsbeschreibung des heutigen Europas, zu dem auch Krieg, Drogen-, Kunst- und Menschenschmuggel gehören. Canal Grande ist ein ungewöhnlich vielschichtiger Roman, ungewöhnlich durch die Betrachtungsebenen sowie dem Themenreichtum. Ein witziges Buch, dem es an Inhalt nicht fehlt.

Sabine Bandow
(erschienen im Knaus Verlag)