Befreiung vom Nationalsozialismus
Likedeeler 16, Frühjahr 2005

"Ein Strauch zittert, weil ein Vogel darüber flog.
Das Herz erzittert, weil Erinnerung es durchzog."

Pfarrer-Wachsmann-Haus in der Bahnhofstraße
(Sàndor Petöfi, ungar. Dichter)  
Im April diesen Jahres ging der Schülerwettbewerb "Greifswald im Nationalsozialismus" mit der Präsentation aller eingereichten Arbeiten und der Prämierung der Besten zu Ende. Die mit Spannung erwartete Entscheidung der Jury wurde vom Publikum im Pommerschen Landesmuseum mit lang anhaltendem Applaus bestätigt: Die beste Arbeit lieferte die katholische Jugendgruppe der Gemeinde St. Joseph. Einen 12minütigen Film über acht Waisenkinder, deren Spuren sich in den Kriegsjahren verloren. "Auf den Spuren" wurde dieser Film genannt, der zwar nicht die Spuren der Kinder wieder findet, so doch aber Spuren für diese Waisenkinder hinterlässt. Spuren, die das Publikum still werden ließen, manche Träne wurde weggewischt. Anne Rabenseifner, die zu den Jugendlichen gehört, die diese Arbeit einreichten, berichtet über ihre Suche.  
 
Erinnerungen haben viele Gesichter. Sie können aufregend, unangenehm, peinlich, atemberaubend oder einfach nur schön sein. Sie können sich auf Orte, Situationen oder Menschen beziehen, die durch sie weiter existieren.
Manchmal jedoch können sie auch ausgelöscht werden. Dann erinnert sich niemand mehr an Schönes und weniger Schönes, an bestimmte Menschen und ihr Leben.
Und das ist traurig.

Zusammen mit einer Jugendgruppe der katholischen Gemeinde Greifswalds habe ich mich mit einer ganz bestimmten Erinnerung beschäftigt. Es war aufregend, anstrengend und am Ende nur noch erschütternd. Aber am besten erzähle ich von Anfang an...

Im Sommer letzten Jahres bekam ich durch unsere Gemeinde Informationen über ein Schülerprojekt namens "Greifswald im Nationalsozialismus".
Auf den ersten Blick nicht gerade das Lieblingsthema vieler Schüler. Auf den zweiten Blick wurde das Projekt für die katholische Jugend jedoch mehr und mehr interessant, da wir in unserer Gemeinde auf eine Begebenheit stießen, die sich 1940 - unter dem NS-Regime - ereignet hatte:

Von 1915 bis 1942 existierte in der Bahnhofstraße neben der kleinen katholischen Kirche ein Waisenhaus, das von den Schwestern der Gemeinde geführt wurde. In diesem Waisenhaus wurden Kinder ohne Eltern oder andere Familienangehörige aufgenommen und Kinder, deren Eltern es nicht mehr möglich war, sie zu ernähren und durchs Leben zu bringen. Die Schwestern kümmerten sich um ein geregeltes Leben, eine angemessene Erziehung und um eine schulische Ausbildung der Kinder. Zu dieser Zeit war es üblich, "solche" Kinder nicht mit Samthandschuhen anzufassen, da sie schon als "für die Gesellschaft verloren" galten, sie hatten es also nicht einfach.
Auch den Nationalsozialisten war das Waisenhaus ein Dorn im Auge. Sie drängten auf baldige Schließung und auf Versetzung der Kinder in das damalige Waisenhaus in Stralsund.
Die Schwestern versuchten in den letzten Tagen vor der Schließung noch verzweifelt, einige der Kinder in Greifswalder Haushalten unterzubringen, als Dienstmägde, Hausmeistergehilfen und ähnliches, doch sie schafften es nicht, jedes Kind in eine Familie zu geben. So blieben acht Kinder übrig, die - vor allem wegen ihres Alters (einige waren noch nicht einmal ein Jahr alt) - am 12. Juni 1940 von den "Braunen Schwestern" der Nationalsozialisten abgeholt und in Richtung Stralsund gebracht wurden.
Leider sind sie nie dort angekommen.

Wir haben es uns im Rahmen des Projektes zur Aufgabe gemacht, auf die Suche nach diesen acht Waisen zu gehen.

Im September letzten Jahres trafen wir uns zum ersten mal in der Bibliothek der katholischen Bildungsstätte. Von Schwester Theresia, einer der Schwestern der Katholischen Kirche, bekamen wir ein Buch mit Namen, Geburtsdaten und kleineren Informationen über die Kinder. Dies waren die einzigen Informationen, die uns über die Kinder gegeben waren. Nicht viel, aber genug um die Suche zu beginnen. Wir erarbeiteten ein Konzept, welche Möglichkeiten der Suche es gab und versuchten dies dann in kleineren Gruppen mit Hilfe von Schwester Theresia und Frau Berger von der Caritas in den folgenden Wochen umzusetzen
Wir suchten im Stadtarchiv Greifswald, in der Unibibliothek und im Kirchenarchiv unserer Kirche. Auch das Stadtarchiv und das Waisenhaus in Stralsund blieben nicht verschont. Leider wurden wir nicht fündig. Sämtliche Daten, Eintragungen oder kleinste Bemerkungen über die Kinder waren entweder noch nie da oder wurden damals gelöscht. Auch in den Archiven der in der Nähe gelegenen Konzentrationslager war unsere Suche erfolglos.

Trotz allem sind wir doch zu einem Ergebnis gekommen. Wir haben zusammen mit Björn Kowalewsky von der "Videowerkstatt der Ev. Akademie MV" einen Film gedreht, der unsere Suche und Versuche, die Kinder zu finden, dokumentiert und ihnen trotz allem ein Denkmal setzt.
Um das Projekt abzurunden, treffen wir uns auch jetzt noch und planen eine Skulptur, die wir als Erinnerung bis Juni fertig stellen und am 12.6.2005, nach einem Gedenkgottesdienst für die Kinder in Greifswald, aufstellen wollen.

Auch wenn wir nicht wissen, wo die Kinder hingebracht wurden und ob sie die Zeit des zweiten Weltkrieges überlebt haben, so haben wir sie doch in Erinnerung gerufen und sie vor dem völligen Vergessen geschützt - und darum geht es uns letztendlich.


Die Seite im Likedeeler 16 (pdf 323KB)
Anne Rabenseifner