über den tellerrand
Likedeeler 16, Frühjahr 2005

Das Feuer und das Wort
Rebellion im Südosten Mexikos  
Die EZLN (Ejército Zapatista de Liberación Nacional) gründete sich 1984. Zehn Jahre später, am 1. Januar 1994, trat der NAFTA-Vertrag (Freihandelsabkommen zwischen den USA, Kanada und Mexiko) in Kraft. Am selben Tag besetzten mehr als vierhundert Männer und Frauen der EZLN in den frühen Morgenstunden neun Bezirkshauptorte im Bundesstaat Chiapas im Südosten Mexikos. Sie forderten die Wahrung der Rechte der Ureinwohner, den Schutz vor wirtschaftlicher Ausbeutung und eine tiefgreifende Demokratisierung der Gesellschaft.  
 

Am ersten Tag schien die Bundesarmee wie gelähmt - danach kam es zu Bombardierungen indianischer Dörfer durch Kampfflugzeuge und Massakern an eingekreisten zapatistischen Truppen und der Zivilbevölkerung. Im Jahr 2004 bestand die EZLN also 20 Jahre und befand sich 10 Jahre im Aufstand. Das Buch "EZLN: 20+10 - Das Feuer und das Wort" beschreibt die Entwicklung der zapatistischen Bewegung und ihren Stand heute.

Leben in der Gemeinde
Die Autorin Gloria Muñoz Ramirez und ca. 800 weitere Journalisten reisten 1994 in das Aufstandsgebiet. Das öffentliche Interesse war groß und es überwog auch in den etablierten Medien in Deutschland eine Sympathie für die Forderungen der Zapatisten. Aber nach den Feuergefechten der ersten Monate ebbte das Interesse vieler Medien schnell ab. Die Zapatisten suchten dagegen Journalisten, die fernab der Sensationspresse das Leben in den zapatistischen Gemeinden kennen lernen wollten. Allerdings waren die Sicherheitsbedenken und die Skepsis der EZLN, die ein Journalist zu überwinden hatte, groß. Gloria Ramirez lebte sieben Jahre in den Gemeinden und bekam Stück für Stück Einblick in das Leben der Dörfer und die Arbeit der EZLN.
Es wurde für sie eine Hütte gebaut und sie arbeitete in den Gemeinden mit. Dabei wurde darauf geachtet, dass sie nicht nur einer Familie half, sondern abwechselnd zu unterschiedlichen Familien kam. Dies war auch nötig, da sie, wie sie schmunzelnd erzählte, eine gute Hand bei der Kürbisaussaat hatte, und einige deswegen nach ihr fragten. Keiner sollte durch den Gast bevorteilt werden. Sie fügte sich in die Arbeitsteilung ein, machte Stickarbeiten und tauschte sich mit den Frauen über die unterschiedlichen Lebenswelten aus: über Waschmaschinen, wie Flugzeuge funktionieren und ähnliches. Nach einigen Dingen sehnte sie sich schon in Chiapas, zum Beispiel danach, mal einen Film zu sehen. Dabei war bereits Warmwasser für das Bad ein enormer Luxus, da dafür Feuerholz gebraucht wurde. Und der Schlamm und Matsch auf den Wegen wäre sicher weniger zu ertragen gewesen, wenn die Leute sie nicht humorvoll damit auch noch aufgezogen hätten. Sie sang dafür, anstatt der Revolutionslieder, die neuesten Hits aus Mexiko. Als sie jedoch an Salmonellen erkrankte, war die Grenze der Belastbarkeit fast erreicht, wenn sich nicht die Gemeindemitglieder so aufmerksam um sie gekümmert hätten. So blieb sie.
Die Autorin Gloria Ramirez arbeitete u. a. bei den mexikanischen Zeitungen Punto und La Jornada sowie für die deutsche Nachrichtenagentur DPA.
Greifswald trifft Mexiko
Gloria Ramirez berichtete letztes Jahr im IKUWO über das Streben, die mexikanische Gesellschaft zu reorganisieren: Gesundheitsversorgung, Verkehr und Bildung waren Probleme, denen sich die EZLN in der Praxis widmete. Die Zapatisten konnten bei ihrer Arbeit an die Kultur der indianischen Bevölkerung anknüpfen, bei der Entscheidungsfindung sind demokratische Strukturen tief verwurzelt. Dennoch erwähnte die Autorin auch Schwächen in den Gemeinden: Auch in Chiapas werden Frauen benachteiligt: traditionell wird ihnen kein Recht auf Versammlungen gegeben und die Achtung ist gering. Die EZLN bricht mit diesen Strukturen, ohne dass sie sich von der Bevölkerung entfernt. In den autonomen Gemeinden, dass heißt in den Gemeinden, die sich den Zapatisten angeschlossen haben, müssen die Frauenrechte tagtäglich erstritten werden. Die Frauen übernehmen dort Aufgaben im Gesundheitsbereich, der Bildung und im Verwaltungsapparat. "Drei Schritte vor zwei Schritte zurück", so beschreibt die Gloria Ramirez die Entwicklung, aber die EZLN bekennt sich zu den Problemen und auch die Autorin betont: "Wir haben mehr Fragen als Antworten."
Das Buch hat die Autorin in 3 Teile geteilt. Zunächst kommen verschiedene Menschen aus den zapatistischen Gemeinden und der EZLN selbst zu Wort. Sie berichten von den Anfängen der Bewegung bis zum Beginn des bewaffneten Aufstandes im Jahr 1994. Im zweiten Teil des Buches werden Jahr für Jahr die bedeutendsten Ereignissen der zapatistischen Bewegung beschrieben. Im dritten Teil kommt schließlich Subcommandante Marcos zu Wort, der innerhalb der EZLN den höchsten Posten als Subcommandante inne hat.
Untergrund  
In den ersten Jahren der Bewegung war die Gruppe der EZLN noch sehr klein. Sie begann mit der Rekrutierung Einzelner. Dies traf bei einigen auf offene Ohren, da die bisher erlebten friedlichen Teilbereichskämpfe kaum Erfolg hatten. Bei der Kontaktsuche wurde sehr stark auf Konspirativität geachtet. So wurden für die Wege ins Dorf Legenden ersonnen, die bei zufälligem Kontakt mit Fremden als unauffällige Erklärung genutzt werden konnten, es wurde die Dunkelheit genutzt und es wurde zuallererst die Schweigsamkeit bei potentiellen Mitstreitern gefordert. Im Urwald erfolgte die Ausbildung zum bewaffneten Kampf. Die Bildung der Kämpferinnen und Kämpfer ging einher mit dem Organisationsprozess der Guerilla und erfolgte zum Teil auch über Flugblätter. In den Gemeinden wurde nach Möglichkeit gefragt, ob etwas gegen die Regierung unternommen werden solle. Es wurden aber auch Feste im lakandonischen Urwald und in vollständig rekrutierten Gemeinden organisiert. Durch die Sicherheitsmaßnahmen war dies eine sehr langsame Entwicklung und mit dem Wachstum der Gruppe wurden auch die Sicherheitsmaßnahmen komplexer. Die Rekrutierung gelang, so Major Insurgente der Infanterie Moisés im Buch, weil die EZLN beim Wachsen ihre Struktur an die der Dörfer anpasste. Man lernte die Art, wie die Bevölkerung lebte. Nur so konnte die innerhalb von 10 Jahren Tausende zählende EZLN wachsen und verhindern, dass sie zu früh von der Regierung entdeckt wurde.  
Selbstverwaltung  
Es würde zu weit führen, die Ereignisse der folgenden Jahre darzustellen - dafür ist schließlich das Buch da. So soll nur ein kurzer Blick auf den Stand der zapatistischen Bewegung geworfen werden. In den letzten Jahren bauten die Gemeinden unabhängig von der Nichtanerkennung durch die Regierung ihre Selbstverwaltungsstrukturen aus. Bisher wurden autonome Landkreise gegründet. Die Behörden der autonomen Landkreise werden unabhängig von der EZLN gebildet und ihre Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen dürfen kein organisatorisches Amt innerhalb der EZLN innehaben. Ziel der Verwaltungen ist es, gehorchend zu regieren. In der Praxis stellt das Ziel eher eine Tendenz dar, die Widersprüchen und Abweichungen unterliegt. In der "Dreizehnten Stele", einer Fortsetzung des von der EZLN herausgegebenen Widerstandskalenders, wurde die Bildung der fünf "Caracoles" (= Schnecken) und die Schaffung der "Juntas der Guten Regierung" angekündigt. Die "Caracoles" sollen den Gemeinden Raum für politische und kulturelle Zusammenkünfte bieten. Einerseits soll von ihnen aus das Leben der Zapatisten für die übrige Welt sichtbar werden, zum anderen soll über diese Orte der Blick in die Welt für die Gemeinden ermöglicht werden. Die "Juntas der Guten Regierung" sollen u. a. bei Konflikten zwischen den Gemeinden und bei Konflikten mit der Regierung vermitteln, Gemeinschaftsprojekte der Gemeinden fördern, Anzeigen gegen Autonome Räte bei Menschenrechtsverletzungen, Unstimmigkeiten und Protest nachgehen, sowie die Einhaltung der Gesetze überwachen - so dass im zapatistischen Rebellengebiet gehorchend regiert wird. Major Insurgente der Infanterie Moisés resümiert bereits im Buch: "Die Juntas lösen Probleme, die früher die Staatsanwaltschaft gelöst hat. Jetzt suchen die Dörfer, auch wenn sie nicht zapatistisch sind, Gerechtigkeit bei den Juntas. Also, sage ich, ist die Regierung diejenige, die nicht verfassungsmäßig ist. Wir werden anerkannt." Dennoch gibt es Probleme. Funktionsüberschneidungen zwischen den Juntas und den autonomen Landkreisen müssen z. B. noch geklärt werden. Die zapatistische Bewegung sieht sich zum Teil auch von den Erwartungen der Bevölkerung an sie überfordert. Die Kritik an den bestehenden Verhältnissen impliziert bei vielen, dass die Zapatisten alles besser machen könnten. "Das ist ein zu großes Versprechen", bekennt Moisés. Subcommandante Marcos berichtet immerhin davon, dass sich vor allem im Gesundheits- und Bildungsbereich die Situation in den aufständischen Gemeinden verbessert hat. So wurden z. B. Mikrokliniken gebaut und der Zugang zu ihnen ist teilweise kostenlos. ‚Die Jugend von heute?', dachte ich und fragte Major Moisés: "Sind nicht wir die Jugend von heute?" "Klar sind wir das", antwortete mit Major Moisés und sattelte sein Pferd weiter, während ich meinen Rollstuhl weiter ölte und die Tatsache verfluchte, dass unsere Feldapotheke kein Viagra enthielt...
Sub Marcos in der Einführung zum Buch
und noch einmal: gehorchend regieren  
Obgleich sowohl die Entscheidung zum Aufstand von den Gemeinden getroffen wurde und die Verhandlungen mit der Regierung von der Zivilgesellschaft eingefordert wurden - Subcommandante Marcos also keineswegs die Führungsperson der Bewegung ist - wurde Marcos mit der Bewegung und dem Schreibstil seiner Verlautbarungen bekannt. Eine Rolle die er nicht gerne hat, der er aber wohl kaum in seiner militärischen Position und als Sprachrohr der EZLN entrinnen kann. So kommt er auch im Buch selbst zu Wort. In einem Interview betont er, dass die EZLN von Anfang an den Kontakt zur Bevölkerung suchte. So war die Guerilla bei Beginn der Kampfhandlungen sehr vertraut mit den Gemeinden und Marcos resümiert: "Man geht davon aus, dass Zivilisten in einem Krieg als Flüchtlinge oder Opfer erscheinen [...] Aber in den meisten Fällen flohen sie nicht, zumindest in den Bezirkshauptsitzen, die wir einnahmen, auf den Plazas, auf denen wir kämpften und auf denen wir uns bewegten. Die Mehrheit der Zivilbevölkerung floh nicht vor unseren Truppen."
Mit Beginn der bewaffneten Kämpfe versucht die EZLN alle Mexikaner zu erreichen und auch international Kontakte zu knüpfen. Marcos war überrascht. Er hatte erwartet, dass die Menschen uninteressiert und apathisch der Bewegung gegenüber stehen, das die Jugend egoistisch, skeptisch, zynisch und abweisend sei und wunderte sich, dass Menschen zuhörten, die Jugend bereit war sich einer gerechten Sache zu widmen und er war überrascht über die starke Beteiligung der Frauen bei jeder Initiative und auf allen Ebenen. Nach einer Phase, in der die Menschen zunächst wissen wollten, wer überhaupt die Zapatisten sind, fragten die Zapatisten, wer denn nun die Bevölkerung sei und was sie von der EZLN erwartet. Sie organisierte nationale und internationale Befragungen, in deren Ergebnis sich 1995 die Mehrheit der ca. 1,2 Mio. beteiligten Menschen dafür aussprachen, dass die EZLN zu einer politischen Kraft wird, das heißt in den Dialog tritt.
Der Dialog mit der Regierung und den Parteien verlief laut Marcos allerdings enttäuschend: "... und das Erste, was wir in dieser Zeit gelernt haben, war, dass das Wort für einen Politiker völlig wertlos ist. [...] Heute sagen sie dies und morgen das. Und von dem, der das Gegenteil macht, halten sie schon gar nichts." Im Februar 1996 kam es zunächst zum 1. Teilabkommen der mexikanischen Regierung mit der EZLN über die Autonomie der Indigenas, das von den Gemeinden angenommen wurde. In ihm wurde unter anderem vereinbart, das Recht der Indiovölker auf Autonomie in der Verfassung anzuerkennen, ihre politische Vertretung zu erweitern, vollständigen Zugang zur Rechtssprechung zu garantieren und einen neuen juristischen Rahmen auszuarbeiten, der ihre politischen und kulturellen Rechte und ihre Rechte vor Gericht garantieren soll. Den Gesetzesvorschlag zur Verfassungsreform sollte die COCOPA (Kommission für Versöhnung und Frieden; Instanz der Legislative auf Bundesebene) vorlegen. Er sollte vereinbarungsgemäß ohne Änderungen angenommen werden. Der damalige mexikanische Präsident Zedillo lehnte Ende 1996 jedoch den Gesetzesentwurf ab. Spätestens als 1997 auch die COCOPA (als parlamentarische Instanz) auf die Durchsetzung ihres Gesetzesentwurfs verzichtete, ist für die EZLN die "politische Klasse" gescheitert. Bis heute ist daher die zentrale Forderung der Zapatisten, die Durchsetzung des 1. Teilabkommens zur Autonomie der Indigenas.
"...hier bei der EZLN werden Irrtümer in der ersten Person Singular konjugiert und Erfolge in der dritten Person Plural..."
(Sub Marcos)
Fragen über Fragen  
Im Anschluss an die Buchvorstellung entwickelte sich im IKUWO eine lebhafte Diskussion. So wurde zum Beispiel nach dem Einfluss des Plan Puebla Panamá und des ALCA (Area de Libre Comercio de las Américas) gefragt. Der Plan Puebla Panamá soll unter anderem der Erschließung von Erdöl- und Erdgasfeldern im südlichen Mexiko und in Guatemala dienen. Daneben geht es um die Entwicklung des Tourismus-Sektors und es wird die Ansiedlung einer Maquila-Industrie betrieben. Das sind Produktionsstätten in denen die Arbeiterinnen und Arbeiter unter Dumping-Bedingungen ohne soziale Standards arbeiten (siehe Likedeeler 7). Das ALCA sieht die Schaffung einer interamerikanischen Freihandelszone über den gesamten amerikanischen Kontinent ab 2005 vor (1). Dies ist praktisch eine Ausdehnung des Freihandelsabkommens NAFTA. Gloria Ramirez verwies im Zusammenhang mit diesen Wirtschaftsprogrammen auf den Umsiedlungsdruck, der für die Bevölkerung in den beanspruchten Gemeinden in Chiapas entsteht. Die Zapatisten lehnen diese Entwicklungen ab. Sie schlagen dagegen den einzelnen widerständischen Gemeinden vor, sich stärker dagegen zu vernetzen. Unverständlich war einigen Gästen die Vermummung der Menschen, die auf den Bildern von Aufständischen präsent war - ob man bei derartigen Zielen sein Gesicht nicht zeigen könne. In der Tat waren es zum Anfang Sicherheitsgründe, die die Menschen in Chiapas bewogen, ihr Gesicht zu verhüllen - Gesetzesbrecher waren sie allemal. Später, berichtet die Autorin, wurde es zum Symbol des Kampfes und unter der Aussage "Wir mussten uns das Gesicht verhüllen, damit sie uns sehen" wurden die bunten Tücher und die schwarzen Wollhauben getragen. Ein weiterer Zuhörer im IKUWO berichtete von seinen Erfahrungen in Mexiko, dass er nur wenig von dem Konflikt dort hörte, und bemängelte die Nichteinbeziehung der Nichtindianischen Bevölkerung. Die Autorin des Buches machte dagegen die Erfahrung, dass es auch nichtindianische Gemeinden gäbe, die sich zu den Zapatisten zählen. Presseinformationen der Aufständischen werden weltweit veröffentlicht. Allerdings werden die zapatistischen Gemeinden militärisch abgeschirmt und auch das Interesse der Öffentlichkeit hat abgenommen. Gefragt wurde schließlich auch, wie geholfen werden kann. Und da gibt es viele Möglichkeiten: Bei der Organisation von Hilfsgütern und Projekten sollte eine Konsultation mit den Gemeinden geführt werden, denn es stapelten sich bereits kaputte Computer und angebotene Projekte gingen bisweilen an den Bedürfnissen und Wünschen der Gemeinden vorbei. Gloria berichtete aber z. B. auch von einer griechischen Geldspende, die für ein Bildungszentrum verwendet wurde und an dem auch Griechen vor Ort mitwirken konnten. In Deutschland wird willkommene Hilfe unter anderem mit der Menschenrechtsbeobachtung organisiert. Hier werden Leute gesucht, die nach Mexiko fahren, um über die Situation zu wachen und die Konflikte zu dokumentieren. Der tragende Verein Carea ist im Netz unter www.buko.info/carea erreichbar. Eine kleine Möglichkeit, die Region wirtschaftlich zu unterstützen besteht über den Kauf des Café Libertad, der auch im Greifswalder Eine-Welt-Laden angeboten wird.
Eindrucksvolle Bilder und Details auf 261 Seiten, veröffentlicht im Unrast-Verlag, ISBN 3-89771-021-8
Frank Effenberger  
(1) Mehr zu den Wirtschaftsplänen unter: nica.wtal.de /publikationen/ movida2-02/ ppp-alca.html