gehört, gesehen, gelesen
Likedeeler 16, Frühjahr 2005

Florence Hervé - Die Unendlichkeit des Horizonts
Neue Frauen und das Meer  
Das Titelbild assoziiert Urlaubsstimmung: eine Frau, die dem Betrachter den Rücken zuwendet, steht barfüßig am Strand, ganz in sich versunken. “Am Anfang dieses Buches stand die Faszination des Meeres- als Ursprung des Lebens, als Symbol für Freiheit, als mythischer Ort”, bekennt die Autorin Florence Hervé. Die gebürtige Französin, Mitherausgeberin des Kalenders und der Zeitschrift “Wir Frauen”, wohnt in Düsseldorf, verbringt so viel Zeit wie möglich in der Bretagne, am französischen Atlantik. Zusammen mit der Fotografin Katharina Mayer hat sie bekannte und unbekannte Frauen in Europa besucht, deren Leben mit dem Meer eng verbunden ist. Ein opulenter Bild-Textband ist dabei entstanden. Es geht, fast philosophisch, um das Ringen mit dem Element, das das Leben selbst ist. Widerstände überwinden, Ungewißheit ertragen, sich mit der Strömung treiben lassen und gegen sie ankämpfen, sich den Wind um die Nase wehen lassen und gegen den Sturm steuern.  
 
Zu Beginn werden “Arbeiterinnen des Meeres” vorgestellt- eine dänische Meeresbiologin, die sich ökologisch und feministisch engagiert, eine Kapitänin, eine Krabbenpulerin, eine Reederin, eine Leuchtturmwärterin, eine Physiotherapeutin. Und die in Rostock geborene Cathrin Münster, Projektleiterin beim WWF in Stralsund, die sich um den Meeresschutz im Greifswalder Bodden und im Strelasund kümmert, dort ein Vogelschutzgebiet betreut.
Auch unter den “Künstlerinnen des Meeres” begegnet dem Leser eine Frau aus Mecklenburg- Vorpommern. Ein herbes, apartes Gesicht, ein beinahe abweisender Blick aus zusammengekniffenen Augen- die Malerin Sabine Curio, Schülerin von Otto Niemeyer- Holstein und Wieland Förster. Sie lebt seit mehr als 25 Jahren in einem Haus auf der Insel Usedom, am Stettiner Haff. “In seiner sattgrünen Fülle erinnert das Anwesen an Claude Monets zauberhaften Garten im französischen Giverny”, schwärmt Florence Hervé.
Sabine Curio, die während ihres Studiums auch in Berlin gewohnt hat, ist vor der Stadt geflohen. “Diese Weite auf Usedom, die Unendlichkeit des Horizonts, das entspricht meinem Wesen”, sagt die introvertiert erscheinende Frau, deren sensible Landschaftsbilder bei Kunstkennern wie Laien hochgeschätzt sind. Sabine Curio gehört zur “Usedomer Schule”, hat aber ihren eigenen Stil entwickelt. Sie bekennt sich zum Realismus, und sie meint, daß sowohl familiäre Erlebnisse als auch gesellschaftliche Ereignisse Auslöser für künstlerische Prozesse sein können. Sie überrascht mit dem Hinweis auf Goyas Grafiken gegen den Krieg, Radierungen von Otto Dix und Zeichnungen toter Soldaten von Adolph Menzel.
Als “Künstlerinnen des Meeres” lernt derLeser auch die französische Schriftstellerin und Feministin Benoîte Groult- Autorin u.a. des erfolgreichen Romans “Salz auf unserer Haut”- die griechische Schriftstellerin Ioanna Karystiani, deren Mann Anfang der 70er Jahre von der griechischen Militärjunta auf die Insel Jaros deportiert worden war, und die Choreografin Hanne Wandtke kennen, Professorin an der Dresdner Tanzhochschule, die die Tanzwochen auf Sylt und Hiddensee leitet.
Zu den “Rebellinnen des Meeres” im nächsten Abschnitt des Buches gehört Peggy Bouchet, eine grazile junge Frau mit blondem Pferdeschwanz, die als erste Französin den Atlantik zwischen den Kapverdischen Inseln und den Antillen allein in einem Ruderboot überquerte, 5000 Kilometer. Wie eine Mischung aus Elfe und Kobold, verschmitzt und jungenhaft, lacht sie in die Kamera. Ihr Motto: “Immer wagen, manchmal nachgeben, nie aufgeben.”
Auch die ehemalige Widerstandskämpferin Marie- Jo Chombart de Lauwe hat nie aufgegeben, obwohl sie Schreckliches durchmachen mußte. Als Patriotin hatte sie sich nach der Besetzung Frankreichs durch die deutschen Faschisten der Résistance angeschlossen, Nachrichten nach England übermittelt. 1942 war sie denunziert worden und kam in das Konzentrationslagers Ravensbrück. Als sie drei Jahre später aus der Hölle befreit wurde, glaubte die 22jährige: “Ich bin nicht mehr lebendig, sondern für dieses Leben tot, ich gehöre nicht mehr zu dieser Welt.” In der heimatlichen Bretagne fand sie ihren Lebensmut wieder und wurde Kinderärztin. Bis heute ist die Hochbetagte aktiv- u.a. als Präsidentin der französischen “Stiftung für das Erinnern an die Deportation” und Co- Präsidentin der “Amicale” von Ravensbrück.
Ungeachtet dieser unterschiedlichen, zum Teil dramatischen Lebensgeschichten steht das Verhältnis der Frauen zur Natur im Vordergrund- ihre Verbundenheit mit dem Meer, die von gelassener Zuneigung bis zur Besessenheit reicht.
Die Fotos von Katharina Mayer zeigen die Protagonistinnen in ihrem Umfeld. Sie vermitteln auf zurückhaltende Weise den Zauber der Strände und Küsten, schwelgen nicht in Farben und Formen, vermeiden Klischees und bunte Gefälligkeit.
Ein Träum-, Mitfühl- und Nachdenkbuch, ein prächtiges Mitbringsel aus dem Urlaub am Meer, ein großzügiges Geschenk für Freundinnen. Ein Buch von und über, aber nicht nur für Frauen. Der mit Adressen und Literaturhinweisen ergänzte Band gibt auch Anregungen für die nächsten Reisen.
Als passende Urlaubslektüre hat Florence Hervé die kleine, edel aufgemachte Anthologie “Am Meer” (edition ebersbach) mit Erzählungen und Gedichten von Schriftstellerinnen wie Sylvia Plath, Marina Zwetajewa, Marie Luise Kaschnitz, Katherine Mansfield und Benoîte Groult herausgegeben.
Cristina Fischer

Florence Hervé/ Katharina Mayer: Frauen und das Meer. Gerstenberg Verlag 2004, 190 S., zahlreiche SW- und Farbabb., Großformat mit SU, 39,90 € (SFr 68.00)
Florence Hervé (Hg.): Am Meer Erzählungen und Gedichte. edition ebersbach (Reihe blue notes) 2004, 123 S., geb., 14,00 € (sFr 25.30)