Befreiung vom Nationalsozialismus
Likedeeler 16, Frühjahr 2005

Gesellschaft - Gedächtnis - Gedenken
Die Seiten in der Druckausgabe (pdf 301KB)
   
Wir schreiben das Jahr 2005. Und so wie jedes Jahr werden Namen und Ereignisse aus der Vergangenheit bemüht, um Diskussionen über Wert und Wesen unserer Kultur, unserer Gesellschaft zu führen. Diese Diskussionen werden in breiter Front geführt: medial, intellektuell, unterhaltend, politisch, pädagogisch, historisch… Der 60. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus und des Endes des Zweiten Weltkrieges ist sicherlich das für dieses Jahr bedeutendste Ereignis, welches in verschiedensten Formen ins Bewusstsein der Menschen, der Gesellschaft gerückt wird. Aber durch welche Mechanismen funktioniert ein derartiges gemeinsames Erinnern? Welche Motivationen liegen der Auswahl der Ereignisse zugrunde, derer sich gemeinsam erinnert werden soll? Und wer wählt diese aus? Welche Gefahren und Chancen liegen in der Konstitution eines gemeinsamen, kollektiven Gedächtnisses?  
 

Wir schreiben das Jahr 2005. Und so wie jedes Jahr werden Namen und Ereignisse aus der Vergangenheit bemüht, um Diskussionen über Wert und Wesen unserer Kultur, unserer Gesellschaft zu führen. Diese Diskussionen werden in breiter Front geführt: medial, intellektuell, unterhaltend, politisch, pädagogisch, historisch… Der 60. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus und des Endes des Zweiten Weltkrieges ist sicherlich das für dieses Jahr bedeutendste Ereignis, welches in verschiedensten Formen ins Bewusstsein der Menschen, der Gesellschaft gerückt wird. Aber durch welche Mechanismen funktioniert ein derartiges gemeinsames Erinnern? Welche Motivationen liegen der Auswahl der Ereignisse zugrunde, derer sich gemeinsam erinnert werden soll? Und wer wählt diese aus? Welche Gefahren und Chancen liegen in der Konstitution eines gemeinsamen, kollektiven Gedächtnisses?

I_Das Erinnern in einer sozialen Gruppe
Im Sozialisationsprozess, dem die Menschen durch ihre Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe unweigerlich unterliegen, werden die Individuen zu einem Erinnern angehalten. Sie denken und lernen innerhalb ihrer Gruppe, sie setzen sich mit sich und anderen Gruppenmitgliedern verschiedener Generationen auseinander. Sie interagieren, kommunizieren. Durch die kulturelle und kommunikative Leistung der Rückholung und Rekonstruktion von Ereignissen identifiziert sich die Gruppe, gibt sich einen Sinn. Neben vielen Merkmalen, durch die sich eine Gruppe definiert, ist das Erinnern, das gemeinsame Gedächtnis ein eminent wichtiges Merkmal. Das heißt, jeder erinnert für sich und doch gemeinsam, in Form von spezifischen Erinnerungsgemeinschaften. Eine Gruppe ist dadurch gekennzeichnet, dass deren Mitglieder über Gemeinsamkeiten verfügen, die aus vergangenen Erfahrungen, gegenwärtigen Überzeugungen und zukünftigen Erwartungen resultieren. Innerhalb dieser Gruppen hat es sicher immer Personen und Institutionen gegeben, die entscheiden und auch durchsetzten wollten, woran ihre Gesellschaft und "künftige Geschlechter" sich erinnern sollten, aber wie und unter welchen Umständen konnten und können solche Bemühungen erfolgreich sein?
Diese Frage zielt auf das Verhältnis von individueller und Gruppenerinnerung einerseits und den vielseitigen Bemühungen um die Durchsetzung verbindlicher (mehr oder weniger verbindlicher...) Deutungen andererseits ab. Es geht also um Gedächtnispolitik, um das Steuern von Erinnerungsleistungen und -deutungen. Hierin liegt aber zeitgleich auch eine große Gefahr. Wie kann eine Gruppe, z. Bsp. unsere Gesellschaft dafür Sorge tragen, dass das gemeinsame Erinnern der positiven Entwicklung der Gruppe zuträglich ist? Wie können wir also Geschehnisse aus der Zeit des Nationalsozialismus in einer Weise wach halten, die jetzige und zukünftige Mitglieder unserer Gesellschaft befähigt zu erkennen, dass eine derartige Ideologie den Menschen und damit die Gruppe, die Gesellschaft zerstört.
II_Das kulturelle Gedächtnis  
Die Grundidee des Konzeptes des kulturellen Gedächtnisses, dass durch das Professorenehepaar Jan und Aleida Assmann erstmals angeführt wurde, besteht aus der Differenz zwischen gelebter, d.h. kommunizierter Erinnerung und institutionalisierter Erinnerung. Unstreitig ist sowohl die Existenz als auch die Berechtigung der individuellen Erinnerung. Sie basiert auf subjektivem Erleben und ist Teil der biographischen Selbstkonstruktion von Individuen. Daneben wird die Kollektive Erinnerung benannt, die eben nicht nur auf individueller Ebene sondern auf der Ebene der Gruppe stattfindet. Nach Assmanns wird diese unterteilt in zwei verschiedene Ebenen des Erinnerns: kommunikatives und kulturelles Erinnern. Das kommunikative Erinnern ist an aktuelle und in jüngerer Zeit passierte Ereignisse gebunden. Sie basiert auf Kommunikationsprozessen zwischen Gruppenmitgliedern, in deren Biographien diese Ereignisse verortet sind. Wenn diese sterben, entsteht eine neue Erinnerung, nämlich die der nachkommenden Generation. Diese Gemeinsamkeit im Erinnern legitimiert u.a. aktuelles politisches Bestreben, ist Orientierungshilfe im Alltag. Sie hält die Gruppe aktuell zusammen. Sie vermag aber nicht, die Existenz einer Gruppe zu begründen. Beispielsweise ist das Massaker von Erfurt im April 2002 ein Ereignis, welches sich derzeit im kommunikativen Gedächtnis befindet. Alle Mitglieder unserer Gesellschaft wissen um das Geschehene und durch das Kommunizieren darüber, orientieren wir uns. Wir wissen, das darf so nie wieder geschehen, suchen nach möglichen Gründen, versuchen unser Zusammenleben zu verändern. Unsere Gruppe erlebt und kommuniziert diese Erinnerung. Wird es aber in 60 Jahren ein gesamtgesellschaftliches Ritual geben, durch welches wir die Erinnerung an diesen Tag in Erfurt wach halten? Hat dieses Ereignis eine so tiefgehende Bedeutung, dass sich spätere Generationen darauf berufen werden, um den Charakter ihrer Gruppe zu begründen?
Das kulturelle Gedächtnis umfasst die fundierte Vergegenwärtigung des Vergangenen. Es bezieht sich entgegen dem kommunikativen Gedächtnis auf Fixpunkte der kollektiven Vergangenheit, die nicht mehr in den Biographien der Gruppenmitglieder verortet werden können, da sie sich vor deren Lebenszeit abspielten. Diese Ereignisse werden in einen kulturellen Rahmen projiziert. Sei es in Symbole, Riten, Mythen, Tänze, Kleidung, Schmuck, Architektur, Zeichensysteme aller Art etc. Das Erinnern wird institutionalisiert. Die Kommunikation über Vergangenheit zeremonialisiert. Die historischen Ereignisse also die faktische Geschichte wird in erinnerte Geschichte und damit in Mythos transformiert. Diese Form von Erinnerung benennt den Ursprung der Gruppe, zeichnet deren Entwicklungsweg und beschreibt wesentliche Einflüsse auf ihren Charakter. Sie legitimiert die gegenwärtige Existenz der Gruppe, ist Identifikationshilfe und dient der Sinnfindung. Das kulturelle Gedächtnis kann als ausgelagerte Erinnerung gesehen werden, die nicht an das Individuum gebunden ist. Der Träger ist die Gruppe. Die Erinnerung wird von den Mitgliedern der Gruppe innerhalb des Sozialisationsprozesses angeeignet.
Im kommunikativen Gedächtnis ergibt sich sein Inhalt demzufolge aus dem zwischen den Gruppemitgliedern geführten Austausch über Vergangenheitsereignisse. Im kulturellen werden Aspekte des Gestern gespeichert, die als für die Gruppe von fortwehrendem Belang definiert werden, also der Sinnstiftung und Identitätsfundierung dienen. Interindividueller Austausch über die Vergangenheit (kommunikatives Gedächtnis) einerseits, institutionelle Vermittlung einer allgemein anerkannten "Version" von Geschichte (kulturelles Gedächtnis) andererseits. Die Gruppe bleibt nur zusammen, wenn beides gegeben ist: alltäglicher Austausch und zeremonielle Bestätigung. Der Kultur wird die Aufgabe und das Potential zugeschrieben, die verbindende Kraft innerhalb dieses sozialen (Groß-)Verbandes zu sein. Sie ist das Element, welches eine Identität der Gruppe konstruiert. Eine Identität, die einen gemeinsamen Erfahrungs-, Erwartungs- und Handlungsraum entstehen lässt.
Wer entscheidet nun aber, welche Ereignisse der Vergangenheit Eingang in das kulturelle Gedächtnis finden sollen? Wer selektiert aus dem universellen Menschheitsgedächtnis, das alles vorhandene Wissen über die Vergangenheit beinhaltet, die Ereignisse, aus deren Bedeutung sich die Gruppe begründet und in Zukunft begründen kann? Es bleibt zu hinterfragen, mit welchen Mechanismen welche Interessengruppen das universelle Menschheitsgedächtnis bemühen, um zu forcieren, welchen Ereignissen in kulturellem Rahmen gedacht werden sollen. Die Frage lautet also, wie wechseln Inhalte des kommunikativen Gedächtnisses in Formen des kulturellen Gedächtnisses.

Präsentation der Schülerarbeiten im Pommerschen Landesmuseum
III_Der Holocaust im kulturellen Gedächtnis  
Die letzten 15 Jahre haben eine erstaunlich intensive Auseinandersetzung mit dem Holocaust mit sich gebracht. An diese tragische Zeit zu erinnern und sie zu verstehen, ist insbesondere in den Ländern ein Anliegen, in denen sich die Gräuel abgespielt haben. Neben einer unermesslichen Flut an Publikationen beschäftigen sich viele Ausstellungen mit dem Thema, Denkmäler wurden geplant, Mahnmale neu konzipiert, Veranstaltungen mit Überlebenden durchgeführt. Spannend ist es zu fragen, wie die Erinnerung an den Holocaust verschiedene Gesellschaften prägt bzw. wie diese das Erinnern an den Holocaust prägen.
Es wird derzeit versucht zu analysieren, wie der Holocaust aus Sicht verschiedener Gruppen und Generationen erinnert wurde bzw. wird, welche Bilder zentral waren, wie sie weitergegeben wurden, von welchen Kommunikationsbedürfnissen und -tabus sie umgeben waren.
Es ist eine Vielfalt im Erinnern erkennbar. So gibt es Tendenzen, den Holocaust als tiefste Wunde der westlichen Zivilisation anzuerkennen, deren Narben nicht verheilt sind und niemals verheilen können. Weiter gehen Tendenzen, die behaupten, die industrialisierte Mordmaschinerie der Endlösung mit ihrer systematischen Erniedrigung von Menschen wohne der westlichen Zivilisation von Natur aus inne und stelle ihre logische Konsequenz dar. Dem wiederum stehen Tendenzen gegenüber, die die Bedeutung des Erinnerns an den Holocaust nicht einräumen wollen. Es sei an der Zeit, diesen Teil der Geschichte endgültig ohne Eingang in das kulturelle Gedächtnis hinter sich zu lassen, wird gefordert. Nicht zuletzt müssen auch Tendenzen genannt werden, die den Holocaust als solchen leugnen und damit dem Erinnern an den Holocaust den Inhalt entziehen.

Somit bilden der Holocaust und die Erinnerung an ihn die Nagelprobe für die humanistischen Ansprüche der abendländischen Zivilisation. Die Frage der Erinnerung und des Vergessens berührt den innersten Kern einer facettenreichen und vielgestaltigen westlichen Identität.

Das Gedächtnis ist ein sensibles Instrument und seine Leistungen sind schwer zu interpretieren. Wir leben in einem Geflecht von alten und neuen Erfahrungen, das unsere heutigen Haltungen und Bewertungen bestimmt. Wir erinnern uns zwar nicht genau, stehen aber ohne sich überlagernde Erfahrungen da ohne Vergangenheit, ohne Orientierung in der Gegenwart, ohne Fähigkeit der Zuordnung, ohne emotionale Empathien und Zuwendungen. Darum brauchen wir ein Gedächtnis, sowohl als Individuen als auch als soziale Gruppen, als Gesellschaften.

Dass der Nationalsozialismus und der Holocaust eine besondere Bedeutung für das kulturelle Gedächtnis der Deutschen hat, darf für uns nicht strittig sein. Es bleibt eine beständige Aufgabe, dafür Sorge zu tragen, dass dem unvorstellbaren Leiden der Opfer auf würdige Weise ein Gedenken gegeben wird, und dass das Unmenschliche der Täter als Mahnung immer präsent bleibt. Das sind wir den vielen leidvollen Schicksalen der Vergangenheit und einem Frieden in Zukunft schuldig.


Preisträgerinnen im Gespräch
Marian Kummerow