blickwinkel | ||
Likedeeler 14, Sommer 2004 | ||
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be|hin|dert <Adj.> | ||
nor|mal <Zustand?> | ||
Bei mir zu Hause wurde kürzlich der Bahnsteig neu
gemacht. Die Zugebene ist jetzt viel tiefer als die Bahnsteigebene. Man
kommt gut rein - aber schlecht raus. Behindertenfreundlicher ist es dadurch
nicht geworden. Das heißt, für Behinderte, die z.B. im Rollstuhl
sitzen. Nicht alle Behinderte sitzen gleich im Rollstuhl. |
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Was ist eigentlich behindert, wann ist man es? Nun, behindert
ist man, wenn man von der Norm abweicht. Die Norm - das kommt von normal.
Das Wort, das man so gerne in Anführungszeichen setzt. Denn wer ist
schon normal, was ist überhaupt normal? Das Normalste wäre wohl
zugleich auch das Langweiligste der Welt. Eigentlich kann es gar kein normal
geben, denn normal definiert sich über seine Opposition,
abweichend. Ohne Abweichung wäre alles normal, aber dann
bräuchte man auch kein Wort, um diesen Zustand zu beschreiben. Wenn
man also mit normal etwas anderes automatisch abgrenzt, will
man eigentlich nur verhindern, dass das Abgegrenzte nicht das Normale und
man selbst das Abgegrenzte wird. Bei der Substantivierung des Wortes sind die rahmenden Anführungszeichen aber offensichtlich einer unüberwindbaren, gesellschaftlichen Barriere zu beiden Seiten hin gewichen. Geistig gesehen, gilt man ab einem IQ von 70 als behindert, hat man noch weniger Punkte vorzuweisen, ist man schwachsinnig. Ab 140 ist man genial und damit angeblich oft schwer erziehbar. Im Übrigen ist die Aussagekraft des IQ- Tests sehr umstritten. Körperlich gilt man ab 1,50 m als kleinwüchsig, aber ein Mensch der über 1,70 m ist, wird es in den meisten Autos schwer haben, hinten aufrecht sitzen zu können. Die 70 Punkte und 20 cm des Dr. Frankenstein? |
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Die Behinderung an sich (selbst) |
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Eigentlich ist eine Behinderung ja viel ausdifferenzierter.
Jeder ist behindert, jeder hat hier oder da etwas, was andere nicht haben.
Kleine Herzschwächen, schiefer Rücken, Asthma, Halbglatze, kleine
Neurosen, Paranoidität, irgendwelche Unter- oder Überfunktionen
bestimmter Organe und so weiter. Mit schönen, die eigene Besorgnis
herunterspülenden Worten, heißt das Zivilisationskrankheiten.
Wo fängt also Behinderung an, wo hört sie auf? Die genannten Beispiele
sollen die Sinnlosigkeit dieser Diskussion darstellen, man wird keine Grenzen
finden. Somit abstrahiert sich Norm und Normalität. Vorhanden ist sie
trotzdem, sie zwängt jeden in diese Form, nein, fast jeder strebt in
diese Form hinein, aus der Angst heraus, anders zu sein. Der gewöhnliche
Mensch, der also immer auf irgendeine Art und Weise behindert ist, schafft
sich selbst durch sein Verhalten eine Norm, die er letztlich nicht erfüllen
kann. |
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abstraktes Denken, abstrakte Begriffe | ||
Diese Norm, die Höhe eines Autodaches im hinteren Innenraum
oder die nichtssagenden Punkte auf einer Skala, die Anfang des letzten Jahrhunderts
entwickelt wurde und neuere Erkenntnisse in der Psychologie außen
vor lässt, diese Norm teilt unsere Gesellschaft. Eine Gesellschaft,
in der keiner ist wie der andere, wird in gleich und ungleich gespalten,
in behindert und nicht behindert. Nicht zuletzt geschieht dies durch einseitig
geprägte, beleidigend gemeinte Metaphern, wie blind, Idiot,
Schwachkopf usw. Diese Metaphern haben ihren Bezug zum Vergleich
verloren. Man kann es nicht mehr nur wörtlich nehmen,
es ist exakt so gemeint wie gesagt. Hier steckt kein kleines wie
mehr dazwischen - du bist schlau wie ein Fuchs - nein, du bist blöd.
Aber andersherum, wenn etwas ganz ,normal ist, die Anführungszeichen,
das Bewusstsein, das es gar nicht normal sein kann. Ja, was ist denn
schon normal, nicht? Normal wird wie selbstverständlich als im übertragenden Sinne angesehen, blöd, blind, Missgeburt usw. dagegen nicht. Man meint es ja nicht so, aber am Ende kommen alle Faktoren hier zusammen: man beschimpft sein Gegenteil, um sich selbst abzugrenzen und sich nicht mit demselben identifizieren zu müssen, zwängt sich damit in eine Norm und ignoriert die eigene Unvollkommenheit. Schließlich trifft man auch den Betroffenen schwer und selbst wenn auf diesen alles das Gesagte nicht zutrifft, so hat diese Art der Beschimpfung doch seit ewigen Zeiten schon Schule gemacht und die Behinderten wissen um ihre Stellung. Sie wissen, dass sie selbst, sie in ihrem Dasein, als Schimpfwort existieren; und das wird sie nicht gerade glücklicher machen. Wie tief dies alles in unserer Sprache steckt, merkt man an Worten wie blindlings (ins Verderben), (die Sache ist) idiotisch, (etwas) lahmlegen, (der Vergleich) hinkt oder gar die Behinderung durch die Baustelle etc. Viele sind sich dabei nicht bewusst, dass eine schwere Behinderung jeden, von heute auf morgen, treffen kann. Aber abgesehen davon kann man nur hoffen, dass das Bewusstsein der Menschen sich dahingehend ändert, Abstand von derartigen Denkweisen zu nehmen. |
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Johannes Tretau | ||
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